Der Begriff „Wikinger“ weckt rasch eine Fülle von Assoziationen. Nicht nur die mit den immer noch durch die populäre Vorstellungswelt geisternden Hörnerhelmen ist falsch. Rudolf Simek stellt in seiner kompakten Einführung Die Wikinger dem Wikingermythos, der schon seit dem Mittelalter immer wieder seltsame Blüten treibt, die Fakten gegenüber, die sich über die Realität der Wikingerzeit den teilweise mit Vorsicht zu genießenden Quellen entnehmen und aus archäologischen Funden rekonstruieren lassen.
Für die das 9. bis 11. Jahrhundert prägenden Plünderungs- und Migrationszüge der Skandinavier benennt Simek dabei keinen einzelnen Grund (wie eine in der Forschung oft vermutete, aber wohl historisch nicht belegbare Überbevölkerung), sondern bevorzugt ein multikausales Modell, in dem spezifische Erbrechts- und Gefolgschaftssysteme ebenso eine Rolle spielen wie die schlichte Gier nach Ruhm und Reichtum. Einen wichtigen Faktor sieht er jedoch vor allem in den bis ins 8. Jahrhundert allmählich erfolgten Verbesserungen im Schiffbau, die es den Wikingern erlaubten, ein im Ostseeraum schon länger praktiziertes Muster von Raubüberfällen und Siedlungsverlagerungen auf die gesamten europäischen Küsten und sogar darüber hinaus auszudehnen.
Dementsprechend detailliert werden verschiedene Schiffstypen sowie Segel- und Navigationstechniken vorgestellt. Stärker noch in diesem Kapitel als in dem der altnordischen Literatur gewidmeten merkt man Simek hier den Germanisten an, der viel Freude an den poetischen Kenningar der Wikinger für ihre Schiffe hat (ob nun „Fjordhunde“, „Wellenwölfe“ oder gar „Windpferd“). Derselbe Spaß am Literarischen schwingt bisweilen auch in der Auswahl der Quellenzitate mit, wenn etwa die Prahlerei, „Fahrtwind selbst gegen den Tod“ zu haben, zur Charakterisierung des in den Schilderungen der Sagas und äußerer Beobachter überbordend erscheinenden Lebensgefühls der Epoche herangezogen wird.
Die Ereignisgeschichte der wikingischen Expansion macht den zentralen Teil des Buchs aus und zeigt eine je nach geographischem Raum unterschiedliche Zielsetzung der Fahrten an: Während in Westeuropa zunächst Plünderungen und Tributerpressungen im Vordergrund standen, aus denen sich erst im zweiten Schritt feste Ansiedlungen und Herrschaftsbildungen ergaben (am erfolgreichsten in der Normandie), war die Landnahme im nordwestlichen atlantischen Raum (Island, Grönland) sofort vorrangiges Ziel. In Osteuropa schließlich erscheinen Wikinger weniger als Plünderer denn als Händler und Söldner. Im Leben einzelner Personen konnten die Übergänge zwischen diesen Daseinsformen allerdings durchaus fließend sein.
Ähnlich quellennah werden Alltags-, Sozial-, Literatur- und Religionsgeschichte in jeweils eigenen Kapiteln beleuchtet. Dabei wird schnell deutlich, dass es angesichts des weitgespannten geographischen und zeitlichen Rahmens bisweilen schwierig ist, pauschale Aussagen über „die Wikinger“ allgemein zu treffen. So konnte etwa die gesellschaftliche Stellung von Frauen regional selbst in eng benachbarten Gebieten recht unterschiedlich sein. Über andere Themen schließlich ist generell kaum etwas bekannt: Zwar gibt es Funde von Musikinstrumenten wie Flöten und Leiern aus der Wikingerzeit, aber was genau darauf gespielt wurde, ist für uns – anders als, wenn auch hochmittelalterlich überformte, Reste der Dicht- und Erzählkunst – unwiederbringlich verloren.
Auf anderen Gebieten dagegen lässt sich viel herausfinden, und wie jede gute Einführung macht auch diese hier Lust darauf, genau das zu tun und noch tiefer ins Thema einzusteigen, vielleicht sogar mit einem anderen Buch desselben Autors.
Rudolf Simek: Die Wikinger. München, C.H. Beck, 6. Auflage 2016, 136 Seiten.
ISBN: 9783406418815