In den 1960er Jahren erbrachten archäologische Ausgrabungen im kanadischen L’Anse aux Meadows (Neufundland) den Beweis dafür, dass Kolumbus und seine Begleiter keineswegs die ersten Europäer waren, die nach Amerika gelangten: Häuserreste und Gegenstände altnordischer Herkunft bestätigten die mittelalterlichen Berichte darüber, dass schon Angehörige der heute unter dem nicht unproblematischen Begriff „Wikinger“ bekannten Kultur Entdeckungsfahrten dorthin unternommen hatten.
Diese Sensationsfunde des norwegischen Forscherpaars Anne-Stine und Helge Ingstad nimmt Rudolf Simek zum Ausgangspunkt seiner kompakten Darstellung.
Sein besonderes Interesse gilt jedoch den literarischen Quellen zu den altnordischen Amerikareisen, vor allem den sogenannten Vinlandsagas (der Eiríks saga rauða und der Grænlendinga saga). Simek betont, dass es sich dabei um phantasievolle Texte mit teilweise romanhaften Zügen handelt, die Topoi gelehrsamer Reisebeschreibungen aufgreifen und deren Auftraggebern oder Verfassern im hochmittelalterlichen Island wohl daran gelegen war, eigene Ahnen in ein positives Licht zu rücken. Dennoch lässt sich aus Übereinstimmungen der inhaltlich voneinander abweichenden Versionen der Geschichte ein wahrer Kern herausarbeiten: Um das Jahr 1000 erkundeten von Grönland aus Wikinger, unter denen Kinder und angeheiratete Verwandte Eriks des Roten eine prominente Rolle spielten, die nordamerikanische Küste und gründeten in einem von ihnen als „Vinland“ bezeichneten Gebiet eine Siedlung, die aber bald wieder aufgegeben wurde.
Dazu, dass keine dauerhafte Wikingerkolonie in Nordamerika entstand, mögen die in den Sagas geschilderten Konflikte sowohl untereinander als auch mit der indigenen Bevölkerung beigetragen haben. Für zentraler hält der selbst segelerfahrene Autor jedoch den Umstand, dass im holzarmen Grönland kein üppiger Schiffsbestand vorhanden war und deshalb nur eine sehr begrenzte Personenzahl zu den Amerikafahrten aufbrach. Apropos Schiffe: Weshalb es gerade den Wikingern und nicht anderen zeitgleich lebenden Europäern glückte, den Atlantik zu überqueren, machen informative Kapitel zu Schiffbau und seefahrerischem Weltbild der Wikinger deutlich.
Besonders spannend sind jedoch Simeks abschließende Betrachtungen zum Nachleben Vinlands in der mittelalterlichen Geographie einerseits und in der Vorstellungswelt der Moderne andererseits. Hier nimmt Simek besonders die seit dem 19. Jahrhundert belegten „Viking Hoaxes“ in den Blick, vermeintliche Wikingerfunde in Nordamerika, bei denen von plumpen Fälschungen über die Fehldeutung jüngerer Bauwerke bis hin zu tatsächlich altnordischen Stücken, die aber erst in der Neuzeit in die USA gelangten, alles vertreten ist. Hier spielt gerade bei Nachfahren nordeuropäischer Einwanderer der Wunsch nach einer Identifikation mit angeblich ruhmreichen Vorfahren eine große Rolle, doch auch unabhängig davon wird deutlich, dass die kurze amerikanische Episode der Wikinger bis heute ihre Faszination nicht verloren hat.
In dem gut lesbaren, unterhaltsam geschriebenen Text sind einige Flüchtigkeitsfehler stehengeblieben (z.B. „Medée“ statt „Méduse“ als französische Form von „Medusa“ bei der Erklärung des Ortsnamens L’Anse aux Meadows oder falsche Jahreszahlen hier und da). Insgesamt trüben sie den positiven Gesamteindruck jedoch nicht, und so ist Vinland! eine empfehlenswerte Einführung in ein spannendes Thema.
Rudolf Simek: Vinland! Wie die Wikinger Amerika entdeckten. München, C.H. Beck, 2016, 160 Seiten.
ISBN: 973406697203