Diebe der Nacht

Offiziell sind die Herbstgänger eine fahrende Theatertruppe, aber in Wirklichkeit bilden Betrug und Diebstahl ihre Hauptgeschäftszweige. Kreativer Kopf der kleinen Schar ist der junge Glin Melisma, dessen geniale Pläne immer aufzugehen scheinen und der seinen Charme und das ein oder andere Bestechungsgeld so gut einzusetzen weiß, dass sich manchmal sogar die Opfer seiner Missetaten mit dem Ergebnis seiner Gaunereien anfreunden können. In der geschichtsträchtigen Lagunenstadt Mosmerano hat die Bande Großes vor. Aber kaum dass die ersten Schritte zu einem dreisten Coup erfolgreich unternommen sind, erspäht Glins Ziehvater Talmo mitten in einer Theatervorstellung einen alten Bekannten, der nichts Gutes im Schilde führt. Das Wiedersehen hat Folgen. So werden die Herbstgänger unversehens von Tätern zu Opfern, und Glin muss all seine Findigkeit aufbieten, wenn es mit seiner Wahlfamilie nicht sehr schnell zu Ende sein soll …

Thilo Corzilius entführt einen in Diebe der Nacht in eine prall ausgemalte Fantasyversion eines frühneuzeitlichen Venedig voller Kunst und Lebensfreude, mit Entsprechungen zu Karneval und sposalizio del mare, aber dann doch auch wieder sehr anders als die historische Version, und das nicht nur, weil es eine polytheistische Religion ganz eigener Prägung dort gibt. Denn in seiner von Christina Srebalus in schönem Kartenmaterial eingefangenen Ruhenden Welt wirken sogenannte Chemistiker und Mechanisten (zu Letzteren zählen auch Talmo und Glin), die mit ihren trickreichen Erfindungen oft mehr auszurichten verstehen als die meisten Magier. Wie so oft in der Fantasy ist nämlich die Magie in gewissem Maße aus der Welt entschwunden, hier jedoch in der interessanten Form, dass es sich bei fortgeschrittenen magischen Fähigkeiten um nichts allzu Esoterisches, sondern um das Wissen einer ausgerotteten Vorgängerkultur handelt, das man vielleicht zurückgewinnen könnte. Einzelne Artefakte aus alten Zeiten haben freilich überdauert, so z. B. auch die Grille, die den Helden – als kleine Pinocchio-Reminiszenz? – begleitet und kein Lebewesen im klassischen Sinne, sondern ein mechanisches Wunderwerk mit eigenem Willen ist.

Sie ist nur eines von vielen charmanten Details des Weltenbaus, der auch in kulinarischen Genüssen, architektonischer Pracht, edlen Kunstwerken und bunten Kostümen schwelgt. Doch mit all dem geht eine dunkle Seite einher, die im Laufe des Romans immer deutlicher hervortritt, seien es nun grausame Hinrichtungsmethoden und Körperstrafen oder schlicht die Ausmaße von sozialer Ungleichheit, Korruption und Heuchelei hinter der Fassade der vermeintlich so strahlenden Stadt. Auch auf der Handlungsebene macht einem das Buch zunächst genauso sehr etwas vor wie die Bande diebischer Schauspieler, denn was als leichtfüßiges Gaunerabenteuer mit flottem Wahlspruch und nur mäßig destruktiver Kriminalität beginnt, schlägt nach einer Weile einen düsteren Weg ein, der in bestenfalls bittersüße Gefilde führt. Auch die passend zur Theaterthematik als Interludien eingefügten Rückblicke, die schildern, wie sich die Herbstgänger Jahre vor der Jetztzeit des Romans nach und nach zusammenfinden, sind teilweise starker Tobak, egal, ob es nun um sexuellen Missbrauch, Gladiatorenkämpfe oder andere Formen unmenschlicher und würdeloser Behandlung geht.

Diese Mischung aus überbordendem Spaß und bitterem Ernst, in der nach und nach auch liebgewonnene Figuren auf der Strecke bleiben und ein glückliches Ende alles andere als garantiert ist, sorgt für ein Leseerlebnis, das durchaus an diesbezüglich oft ähnlich ambivalente klassische Schelmenromane erinnert. Allerdings geht es hier doch teilweise dreckiger zu (eher abschreckende Sexszene im Bordell inklusive), und auch der Stil ist um einiges lockerer und umgangssprachlicher. So können Wetter und Befinden auch im Erzählerbericht schon einmal „beschissen“ sein, und oft wird ein derber Ausdruck gezielt genutzt, um eine vorher aufgebaute lyrische Stimmung zu konterkarieren. Kontraste verbergen sich zum Teil auch in der Namensgebung. Dass in jemandem namens Melisma viel – einschließlich verschlungener Gedankengänge – steckt, überrascht nicht, wohingegen es natürlich ironisch wirkt, dass die beste Kämpferin der Herbstgänger, die im Notfall auch vor Folterungen nicht zurückschreckt, Yrrein heißt. Nur bei dem Namen Birkenau für einen Konstrukteur aus der Vergangenheit fragt man sich, ob er angesichts der mit der Bezeichnung unweigerlich verbundenen traurigen Assoziationen geschmackvoll ist (besonders, als sich im letzten Drittel des Romans dann erweist, was genau die Person, die ihn trägt, eigentlich gebaut hat).

Alles in allem jedoch bieten die Diebe der Nacht ein wildes und bunt ausgemaltes Abenteuer um einen moralisch fragwürdig handelnden Tricksterhelden, der in manchen Zügen den Schurken der Geschichte gar nicht so unähnlich ist, wie ihm vielleicht lieb wäre, aber bis zum actionreichen Finale nicht nur das Personal des Romans, sondern auch diejenigen, die ihn lesen, in Atem hält, bis dann eine letzte unerwartete Wendung selbst ihn überrumpelt. Auf alle Fälle hat man am Ende den Eindruck, die Ruhende Welt erst ansatzweise erkundet zu haben. Falls Thilo Corzilius also irgendwann für ein anderes Buch dorthin zurückkehrt, gibt es gewiss noch einiges zu erzählen.

Thilo Corzilius: Diebe der Nacht. Stuttgart, Klett-Cotta, 2020, 480 Seiten.
ISBN: 978-3-608-98330-2

 


Genre: Roman