Ein Monat auf dem Land

England 1920. Ein verlockender Auftrag führt den von seinen Kriegserlebnissen gezeichneten Restaurator Tom Birkin ins Dörfchen Oxgodby. Denn sehr zum Missfallen des örtlichen Pfarrers hat eine exzentrische Gönnerin der Kirche nur unter der Bedingung eine große Geldsumme vermacht, dass einerseits das Grab ihres fernen Vorfahren aufgespürt, andererseits aber ein mittelalterliches Wandgemälde am Chorbogen freigelegt wird. Birkin macht sich an die Arbeit und begegnet nicht nur dem mit der Suche nach dem Grab betrauten Archäologen, einer bunten Fülle von Dorfbewohnern und einem frühneuzeitlichem Epitaph mit wahrlich grausigem Latein, sondern ganz unverhofft seiner großen Liebe – und indirekt auch sehr intensiv dem anonymen Künstler, dessen Meisterwerk er Stück für Stück von der Übertünchung befreit.
Ein Monat auf dem Land ist als nostalgische Rückschau eines alternden Ich-Erzählers angelegt, der nach Jahrzehnten wehmütig seine Jugend und Menschen, die seinen Weg nur kurz kreuzten, heraufbeschwört. Dieses Element leiser Melancholie hindert das Buch jedoch nicht daran, zugleich vor Humor nur so zu sprühen. Der in Monika Köpfers Übersetzung herrlich leichte und spritzige Stil, die pointierten Dialoge, Birkins ironische Gedankengänge und nicht zuletzt die alltäglich absurden Situationen, in die er immer wieder gerät, machen die brillante Sommerskizze zu einem einzigen Lesevergnügen. Zu ihrem Charme trägt auch bei, wie sinnlich und liebevoll das zum imaginierten Erzählzeitpunkt längst dem Fortschritt zum Opfer gefallene ländliche England kurz nach dem Ersten Weltkrieg geschildert wird.
Die geradezu impressionistische Stimmung, die über der Erzählung liegt, könnte fast darüber hinwegtäuschen, dass auch abgesehen von Birkins Kriegstrauma wiederholt sehr ernste Themen angeschnitten werden. Subtil geht es um soziale Ausgrenzung aus den unterschiedlichsten Gründen (und in mehr als einer Epoche), verpasste Chancen, gesellschaftliche Zwänge, Verlust und Tod. Ein klassisches Happy End wartet nicht auf Birkin, aber dennoch liest sich seine Geschichte sehr tröstlich, führt sie doch auf die Erkenntnis hin, dass etwas nicht von ewiger Dauer sein muss, um tiefe Bedeutung zu haben, und dass gerade Unwiederholbares heilsam und wertvoll sein kann.

J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land. Köln, DuMont, 2016 (englisches Original: 1980), 158 Seiten.
ISBN: 9783832198350


Genre: Roman