Emmas Reise

Behütet und ein wenig naiv wächst die Kaufmannstochter Emma van Haaren in Hamburg auf, das von den Gräueln des Dreißigjährigen Kriegs verschont geblieben ist. Kurz nach dem Friedensschluss erreicht sie eine Einladung ihrer Großmutter aus Amsterdam, die endlich doch noch das bisher kaum zur Kenntnis genommene Kind ihres verstorbenen Sohns kennenlernen möchte. Was für Emma als vergnüglicher Aufbruch ins lange verwehrte Abenteuer beginnt, wird rasch zum Albtraum: Nur knapp entkommt sie einem Kutschenüberfall und erhält noch dazu im letzten Augenblick von einem Mitreisenden den Auftrag, seinen verschlossenen kleinen Sohn zu retten. Mit dem Jungen Valentin im Nirgendwo gestrandet, ist Emma zum ersten Mal in ihrem Leben gezwungen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und sich durchzuschlagen. Der einsame Wolf, der sich ihr an die Fersen heftet, stellt dabei noch die geringste Schwierigkeit dar, denn bald muss Emma erkennen, dass sie unversehens in eine undurchschaubare Verschwörung hineingestolpert ist …
Auf Petra Oelker ist Verlass, was historische Romane betrifft. Liebevolle Recherche bis ins Detail, lebendige Figuren, unterschwelligen Humor und spannende Wendungen ist man also ohnehin von ihr gewohnt, aber mit Emmas Reise geht sie noch einmal darüber hinaus und bietet eine Geschichte, die ihre auch schon gelungenen Krimis weit in den Schatten stellt. Zwar kennt man einige Elemente schon aus ihren früheren Werken (so etwa das Motiv der Tochter aus gutem Hause, die es – zumindest zeitweise – zu einer fahrenden Schauspielertruppe verschlägt), aber der Schwung und die Intensität, mit der sie hier zum Einsatz gebracht werden, suchen ihresgleichen.
Ein wenig ist das vielleicht auch der prallen Welt des mittleren 17. Jahrhunderts geschuldet, die Oelker furios heraufbeschwört: Obwohl der Dreißigjährige Krieg gerade überwunden ist, lauern Gefahren, religiöser Fanatismus, Aberglaube und Unheimliches noch hinter jeder Ecke und sind umso näher und greifbarer, da die Protagonisten in zumindest für norddeutsche Leser recht vertrauten Gegenden damit konfrontiert werden.
Bis auf zwei vielleicht etwas zu genussvoll zelebrierte Leichenauffindungen geht Oelker allerdings dankenswert dezent mit den Grausamkeiten um, die diese Kulisse naturgemäß zu bieten hat. Viel stärker stehen neben den stimmungsvoll beschriebenen Landschaften Alltag, Gebräuche, Musik und Kunst der Epoche im Vordergrund, und wie aus Oelkers Büchern gewohnt haben auch einige historische Persönlichkeiten kleine Gastauftritte, von Rist über Rembrandt bis zu Ruisdael.
Vor allem aber lebt der Roman von seinen sympathischen Protagonisten, zu denen neben der anfangs etwas unreifen, aber glücklicherweise durchaus patenten Emma und dem von seiner streng calvinistischen Erziehung gebeutelten Valentin auch der auf der Suche nach den beiden nicht immer vom Glück begünstigte Lautenspieler Lukas Landau zählt, von dessen bisweilen leicht selbstironischen Gedankengängen man gern noch mehr gelesen hätte.
Der heimliche Held der Geschichte ist aber gar kein Mensch, sondern einer der liebenswertesten literarischen Wölfe aller Zeiten, der den Vergleich mit bekannten Artgenossen (wie etwa Robin Hobbs Nachtauge aus der Weitseher-Reihe) beileibe nicht zu scheuen braucht. Die in seiner Perspektive angedeuteten Jenseitsvorstellungen und Wolfsmysterien lassen einen heimlich wünschen, Petra Oelker würde als Nächstes einen Fantasyroman schreiben und diese Ideen weiter ausbauen.
Aber auch wenn diese Hoffnung vielleicht vergeblich ist, kann man sich möglicherweise auf eine Fortsetzung von Emmas Erlebnissen freuen: Die Handlung wird zwar zu einem befriedigenden vorläufigen Abschluss gebracht, aber es bleiben noch genug kleine und große Fragen offen, um Anknüpfungspunkte für etwaige Folgebände zu bieten.
Das tröstet einen etwas darüber hinweg, dass der Roman, der sich gelegentlich kaum aus der Hand legen lässt, so schnell ausgelesen ist, denn eigentlich würde man gern noch viel länger in dieser faszinierenden Welt verweilen. So bleibt nur, eine klare Lektüreempfehlung für alle auszusprechen, die Fans historischer Romane sind oder es erst noch werden wollen.

Petra Oelker: Emmas Reise. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 2016, 447 Seiten.
ISBN: 9783499271236


Genre: Roman