Die antiken griechischen Mythen sind auch nach Jahrtausenden noch bekannt und beliebt, aber für Tatsachenberichte dürften sie heutzutage nur noch die wenigsten Menschen halten. Doch auch im Altertum war nicht jeder bereit, die phantastischen Erzählungen voller Magie und Mischwesen für bare Münze zu nehmen, wie die Unglaublichen Geschichten des Palaiphatos belegen, ein leider nur teilweise überliefertes Werk, in dem der Zeitgenosse Alexanders des Großen sich bemüht, rationale Erklärungen für die allzu weit hergeholten Elemente von Sagen zu finden. Kai Brodersen gibt die erhaltenen Abschnitte zweisprachig unter dem humorvollen Titel Europa und Herr Stier heraus.
Was auf den ersten Blick nur wie ein launiges Wortspiel wirken könnte, umreißt auf den zweiten recht gut Palaiphatos‘ Vorgehensweise, denn in der Regel spricht er dem jeweiligen Mythos einen wahren Kern nicht ab, interpretiert aber die verfügbaren Informationen so um, dass sie ein mehr oder minder realistisches Szenario ergeben. So wird denn auch Europa nicht von einem Stier (bzw. Zeus in Stiergestalt) entführt, sondern von einem Kreter mit dem sprechenden Namen Tauros (= „Stier“) als Kriegsgefangene verschleppt.
Ist diese Erklärung noch relativ schlicht und geradlinig, wird es in anderen Fällen kreativer und nicht minder bunt als in den ursprünglichen Geschichten. So begegnen einem Medea als Wellnessanbieterin und Erfinderin des Haarefärbens, der Minotauros als Viehräuber, die Sphinx als skrupellose Bandenchefin, Skylla als etruskisches Piratenschiff und die Kentauren als die ersten Reiterkrieger. In bestimmten Fällen geht es dabei in Palaiphatos‘ Umdeutung für die Protagonisten etwas glimpflicher aus als im Mythos. Beispielsweise wird Niobe nicht versteinert, sondern ist nur als Bildnisstatue – mithin in Stein – am Grab ihrer Kinder präsent. Andere dagegen trifft es umso härter: Die arme Kallisto wird nicht in eine Bärin verwandelt, sondern von einer aufgefressen, so dass ihre Begleiterinnen fälschlich den Schluss ziehen, sie hätte selbst Tiergestalt angenommen.
Wie die Beispiele zeigen, geht es Palaiphatos häufig darum, durch den Verweis auf bildhafte Sprache oder Missverständnisse Behauptungen aufzulösen, die physisch Unmögliches beschreiben. In manchen Fällen interpretiert er jedoch auch Sachverhalte um, die durchaus nicht undenkbar, in seinen Augen aber sozial unangebracht sind: So sind die Amazonen für ihn keine kämpfenden Frauen (wo käme man denn da hin?), sondern Männer, deren Haartracht und Kleidung von ihren Gegnern als feminin empfunden wird, und Herakles kann selbstverständlich nicht Omphales Sklave sein, sondern ist nur so verliebt in sie, dass er ihr jeden Wunsch von den Augen abliest. Neben dem sehr modern wirkenden Bedürfnis, liebgewonnene alte Geschichten so gut wie möglich an ein im weitesten Sinne naturwissenschaftliches Weltbild anzupassen, um sie nicht ganz verwerfen zu müssen, verraten die Sagenumbauten also auch viel über Wertvorstellungen und Vorlieben eines Menschen des 4. Jahrhunderts v. Chr.
Kai Brodersens Übersetzung liest sich angenehm und flüssig, und die erhellende Einleitung erleichtert den Einstieg in das Werk ebenso wie die Beigabe einer „normalen“ Version der von Palaiphatos bearbeiteten Mythen in der Fassung des Apollodor. Obwohl also die wissenschaftliche Perspektive durchaus gewahrt bleibt, ist Europa und Herr Stier vor allem eines: Ein Buch von unglaublich hohem Unterhaltungswert, das in seinem sturen Bemühen um Rationalisierung mindestens so fabulierfreudige Blüten treibt wie jedes Märchen.
Kai Brodersen (Hrsg.): Europa und Herr Stier. Palaiphatos‘ Wahrheit über die griechischen Mythen. Stuttgart, Reclam, Neuausgabe 2017 (Original: 2002), 149 Seiten.
ISBN: 978315019458