In der Geschichtswissenschaft steht das Meer häufig nur dann im Mittelpunkt, wenn auf ihm Handelsschifffahrt oder militärische Unternehmungen stattfinden – eine Verengung des Blicks, der Nikolas Jaspert mit Fischer, Perle, Walrosszahn. Das Meer im Mittelalter eine andere, stärker durch das Meer als Ökosystem und Alltagswelt geprägte Perspektive entgegensetzt, und das auf gut lesbare und bei allem Ernst unterhaltsame Weise. In drei großen Kapiteln – Meer und Mensch, Reale und fiktive Meereslebewesen sowie Schätze des Meeres – geht es um das Leben vom und mit dem Meer, religiöse und literarische Deutungen, die ihm und seinen Bewohnern beigelegt wurden, Kunstwerke mit Meeresbezug und noch viel mehr. Ausnahmslos alle Meeresthemen können natürlich auch hier nicht abgehandelt werden (zu Sturmfluten, die wahrscheinlich allen aus Norddeutschland Stammenden beim Stichwort „Meer“ spontan einfallen, gibt es etwa keinen eigenen Abschnitt), aber die Fülle unterschiedlicher Aspekte, die zur Sprache kommen, beeindruckt und überzeugt.
Sympathisch ist dabei, dass Jaspert dafür plädiert, nicht in der arroganten Manier eines vermeintlich klügeren Nachgeborenen über die Epoche zu urteilen, sondern mittelalterliche Ordnungs- und Deutungskategorien dort, wo es sich anbietet, gelten zu lassen und selbst zu verwenden. So ist z. B. die Koralle, die im Mittelalter gern als Gestein betrachtet wurde, unter die Schätze eingeordnet, statt sich bei den Lebewesen zu finden, zu denen sie, wie wir heute wissen, zählt. Denn trotz aller naturwissenschaftlichen Fortschritte sind wir nicht unbedingt schlauer, wurden doch aus menschlichem Fehlverhalten resultierende Probleme wie Überfischung durchaus schon im Mittelalter erkannt, ohne dass man seither gelernt hätte, besser und nachhaltiger zu handeln (eher im Gegenteil). Mag einen auch manches aus moderner Sicht eher amüsieren, wie etwa die Fülle von Fabelwesen von der Sirene bis zum Meermönch, die im Mittelalter im Meer verortet wurde, erweist sich in erstaunlich vielen Punkten, dass bestimmte heutige Meinungen über das Meer und seine Tiere ihre Wurzeln schon im Mittelalter oder, durch dieses tradiert, gar in der Antike haben, etwa der gute Ruf, den Delfine, nicht unbedingt ganz zu Recht, immer noch genießen, während sich die Assoziation der mit ihnen verwandten Wale mit Teuflischem und Unheimlichem zum Glück verloren hat.
Geographisch liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf dem christlich, islamisch und jüdisch geprägten Bereich Europas und angrenzender Gebiete, vor allem auf dem Mittelmeerraum sowie Nord- und Ostsee. Deutlich wird dabei, dass es zwischen Angehörigen aller drei Religionen nicht nur einen Austausch von Wissen und Vorstellungen gab, sondern auch die Arbeit mit dem Meer und den daraus gewonnenen Produkten über Glaubensgrenzen hinweg verlaufen konnte (wenn etwa jüdische Handwerker aus Korallen Rosenkränze für den christlichen Markt fertigten). Ohnehin räumt die Quellennähe des Buchs, die gerade durch juristische Texte wie Protokolle oder Verträge immer wieder einen Blick auf das Leben einfacher Menschen zulässt, mit vielen Vorurteilen auf, wenn etwa der Lehrling eines solchen Korallenverarbeiters verpflichtet wird, seinem Meister auch bei der Kinderbetreuung von dessen kleiner Tochter zu helfen. Was man, modern gesprochen, unter Care-Arbeit zusammenfassen würde, war also keine rein weibliche Domäne, wie umgekehrt in anderen Fällen durchaus auch Mädchen als Lehrlinge erscheinen, also eine Berufsausbildung erhielten. Manchmal ist das Geschilderte auch nicht ohne Situationskomik, beispielsweise, wenn es im spätmittelalterlichen Barcelona zu heftigen Handgreiflichkeiten kommt, weil ein Gewerbeaufseher den örtlichen Steuereintreiber dabei ertappt, mit den Fischverkäuferinnen bei Preistreibereien durch künstliche Warenverknappung gemeinsame Sache zu machen, und ihn daraufhin unter vollem Körpereinsatz aus der Markthalle wirft.
Eindringlich wird aber auch immer wieder aufgezeigt, dass die vom Meer abhängige Wirtschaft oft ausbeuterische Züge hatte, nicht nur, was den Umgang mit der Natur betraf, sondern auch in Bezug auf die Behandlung der beteiligten Menschen. Unrühmliche Beispiele sind etwa die Bernsteinfischerei des Deutschen Ordens, der nicht nur Leibeigene und Hörige unter erbarmungswürdigen Bedingungen dazu heranzog, sondern auch mittels drakonischer Strafen erzwang, jeden noch so kleinen Bernsteinfund bei ihm abzuliefern, und die Meersalzgewinnung auf Ibiza, für die man als Arbeitskräfte gezielt Menschen aus Nordafrika entführen ließ und versklavte.
In scharfem Kontrast zu dieser bitteren Realität stehen die zahlreichen wunderbaren Kunstwerke des Mittelalters, die entweder das Meer zeigen oder aus Meeresmaterialien (vom titelgebenden Walrosszahn bis zum Purpur) gestaltet wurden. Der prachtvolle Tafelteil und eine Reihe von Schwarzweißabbildungen machen auch diese schöne Seite des mittelalterlichen Umgangs mit dem Meer erfahrbar, wie ohnehin die gelungene Buchgestaltung hervorzuheben ist. Bereits der Umschlag, der Fische und Fabelwesen aus Bildern des 12. und 13. Jahrhunderts effektvoll in Szene setzt, macht Lust auf mehr (oder Meer?), und das Buch erfüllt die geweckten Hoffnungen voll und ganz. Für alle Meeresbegeisterten und Mittelalterinteressierten kann – nein, muss – also von ganzem Herzen eine Leseempfehlung ausgesprochen werden.
Nikolas Jaspert: Fischer, Perle, Walrosszahn. Das Meer im Mittelalter. Berlin, Propyläen, 2025, 592 Seiten.
ISBN: 978-3-549-10084-4