Den Stein-Hardenberg’schen Reformen entkommt man im schulischen Geschichtsunterricht nicht, aber über die Menschen, die hinter diesen Maßnahmen standen, erfährt man in aller Regel nur sehr wenig. Heinz Duchhardts Kurzbiographie Freiher vom Stein. Preußens Reformer und seine Zeit (die auf dem ausführlicheren Werk des Verfassers zum selben Thema beruht) schafft Abhilfe, was einen der beiden Herren betrifft.
Wer also war jener Heinrich Friedrich Karl vom Stein, der einem diffus als Reformer und vielleicht auch noch als Begründer der bis heute Maßstäbe setzenden Quellenedition Monumenta Germaniae Historica ein Begriff ist?
In Duchhardts vor allem auf den Politiker Stein ausgerichteter Biographie, in der sein Elternhaus ebenso wie seine Frau und seine beiden Töchter eher eine Nebenrolle spielen, tritt Stein einem als Mann nicht ohne Widersprüche entgegen, administrativ klug, aber beileibe kein Diplomat und auf Neuerungen nicht um ihrer selbst willen erpicht, sondern aus einer letztlich zutiefst konservativen Sehnsucht nach einer idealisierten guten alten Zeit heraus. In eine kinderreiche Reichsritterfamilie hineingeboren und von den Eltern aus bis heute ungeklärten Gründen zum Alleinerben bestimmt, obwohl er nicht der älteste Sohn war, zeigte Stein schon in seinem Studium in Göttingen historisches Interesse. Seine Entscheidung, in preußische statt, wie in der Familie üblich, in Mainzer oder kaiserliche Dienste zu treten, lag wohl unter anderem darin begründet, dass er dort Anpassungsdruck und absolutistische Tendenzen für geringer ausgeprägt hielt als in anderen deutschen Staaten. Während erster Verwaltungstätigkeiten in Westfalen sammelte Stein Erfahrungen mit dort erhaltenen Elementen des vorabsolutistischen Ständestaats, die ihn tief beeindruckten und seine Ablehnung zentralistischer Tendenzen zugunsten stärkerer Bürgerbeteiligung und lokaler Eigenständigkeit prägten.
Sein 1804 übernommenes erstes Ministeramt wurde Stein im Zuge des desaströsen Kriegsausbruchs 1806 nicht zuletzt aufgrund seines wenig umgänglichen Auftretens König Friedrich Wilhelm III. gegenüber wieder los. 1807 abermals zum Minister berufen führte er die Reformen durch, für die er berühmt werden sollte, die aber nur teilweise auf seinen ureigensten Ideen beruhten. Während er z.B. Maßnahmen wie die Bauernbefreiung zwar mittrug, waren sie für sein eigenes Denken weniger zentral als das Bemühen, die Verantwortung des einzelnen Bürgers für das Gemeinwesen zu stärken und ihm insbesondere im Rahmen der lokalen Verwaltung Partizipationsmöglichkeiten zu verschaffen. Von einer allgemeinen Demokratisierung waren Steins Vorstellungen dabei weit entfernt. Vielmehr ist ihnen eine paternalistische Tendenz nicht abzusprechen, die vor allem die besitzenden Bürger in die Pflicht nahm und verrät, dass Stein eher die Rückbesinnung auf eine geschönte Vergangenheit umtrieb als die Orientierung an aufklärerischen Idealen.
Bei der Umsetzung seiner Überlegungen fehlte es Stein teilweise an Fingerspitzengefühl, und so machte sich mehrfach unnötig Gegner. Duchhardt spart dabei nicht mit amüsanten Details; so erfährt man z.B., dass der christlich-sittenstrenge Stein den in der Erinnerung auf ewig mit ihm verbundenen Hardenberg und dessen lockeren Lebenswandel persönlich wenig schätzte. Angesichts des Widerstands, den Stein oft geradezu herausforderte, ist es kein Wunder, dass seine Vision für eine Umformung des Staats nur in Teilen Wirklichkeit wurde (so gelang ihm zwar eine Städteordnung, nicht aber die Durchsetzung einer umfassenden Verwaltungsreform auch für ländliche Gebiete).
Aufgrund eines publik gewordenen napoleonkritischen Briefs politisch untragbar geworden und später gar zur Flucht gezwungen verlagerte Stein in der Folgezeit seine politischen Aktivitäten vor allem im Dienst des russischen Zaren auf die Agitation gegen Napoleon und die Förderung der Koalition gegen Frankreich. Seine Tragik liegt vielleicht darin, dass er zwar damit zum Erfolg der Befreiungskriege beitrug, deren Einmünden in die Restauration und eine Stärkung staatlicher Zwänge seinen Überzeugungen zuwiderlief.
Im Alter war er nur noch mit mäßigem Erfolg regionalpolitisch tätig und flüchtete sich in eine Verklärung sowohl der Befreiungskriege als auch des Hochmittelalters, das er als Höhepunkt deutscher Geschichte betrachtete. Dass ausgerechnet diese Romantisierung ihn 1819 zur Gründung der „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde“ motivierte, die als Herausgeberin der für die kritische Beschäftigung mit der Geschichte so wichtigen Monumenta Germaniae Historica fungierte, ist eine charmante Ironie.
Bei Steins Tod 1831 kam es zwar zu Trauerbekundungen der Bevölkerung, doch ins Konzept der preußischen Regierung passte er zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr.
Originell und zugleich überzeugend ist Duchhardts Überlegung, dass vielleicht gerade dieses partielle Scheitern dafür sorgte, dass Stein postum von verschiedenster Seite viel Sympathie entgegengebracht wurde und politisch völlig konträr ausgerichtete Gruppen versuchten, das Gedenken an ihn jeweils zu vereinnahmen. Diese Erinnerungskultur sieht Duchhardt mittlerweile im Schwinden begriffen, doch wenn man bedenkt, dass mit dem berühmten Namen im Laufe der Zeit auch viel Schindluder getrieben wurde, weiß man nicht recht, ob man das bedauern sollte.
Obwohl Duchhardt seinen Protagonisten also durchaus realistisch sieht, folgt die Biographie dem in den letzten Jahren vestärkt zu beobachtenden Trend, die überkritische Deutung, die manche historische Persönlichkeit in der modernen Geschichtswissenschaft erfahren hat (man denke etwa an Wehlers vernichtende Einschätzung Steins in seinem Standardwerk zur Deutschen Gesellschaftsgeschichte), zu hinterfragen und anstelle einer Bewertung primär nach heutigen Kriterien den Versuch zu setzen, den Menschen aus seiner Zeit heraus zu verstehen. Diese Relativierung pauschaler Negativurteile gereicht dem Werk nicht zum Nachteil.
Um die Lektüre voll und ganz genießen zu können, schadet es nicht, ein paar Vorkenntnisse zum Napoleonischen Zeitalter mitzubringen. In etwa sollten einem die grundlegenden politischen und militärischen Entwicklungen (und idealerweise auch die Namen einiger Adelshäuser und Einzelpersonen) präsent sein, denn während das Bändchen hervorragend als erste Annäherung an den Freiherrn vom Stein funktioniert, ist es eindeutig keine Einführung in seine im Titel ebenfalls beschworene Zeit.
Heinz Duchhardt: Freiherr vom Stein. Preußens Reformer und seine Zeit. C.H. Beck, München 2010, 127 Seiten.
ISBN: 978-3406587870.