Homers Odyssee

Die Odyssee zählt zu den bekanntesten und wirkmächtigsten Texten der Weltliteratur. In seiner kompakten Einführung Homers Odyssee bietet der Altphilologe Bernhard Zimmermann eine lebendig geschriebene und kluge Annäherung an das Epos, dessen Faszination bis heute ungebrochen ist.

Zimmermann datiert die Odysee auf etwa Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. und beginnt seine Darstellung, indem er dem schwer fassbaren Dichter Homer nachspürt, über den bei allem Ruhm schon in der Antike mehr Legendarisches als historisch wirklich Belastbares berichtet wurde. So undeutlich die Person des Autors also gezwungenermaßen bleibt, lässt sich doch viel zu Sprache und Versmaß sagen, und Zimmermann bietet in diesem Kontext eine der klarsten Erläuterungen der Funktionsweise des daktylischen Hexameters, die man in der Literatur finden kann. Selbst wer sich sonst nicht gern mit dem Metrum von Dichtungen auseinandersetzt, wird hier garantiert das Wesentliche nachvollziehen können.

Nach einem kurzen Forschungsabriss zur Homerphilologie seit dem Altertum steht im nächsten großen Abschnitt der Inhalt der Odyssee selbst im Mittelpunkt, die nicht nur ausführlich nacherzählt, sondern auch gut in ihren Sagenkontext (welche Ereignisse sind vorher, welche nachher zu denken?) eingeordnet wird. Nachdem so eine Verständnisbasis auch für diejenigen, die den Primärtext (noch) nicht kennen, geschaffen worden ist, folgt ein Analyseteil, in dem Struktur, Erzähltechnik, Motive und Poetik des Epos gründlich unter die Lupe genommen werden. Besonderen Wert legt Zimmermann dabei auf die Zeichnung der Figuren, denen noch einmal ein eigenes Kapitel gewidmet ist.

Deutlich wird in Zimmermanns Untersuchung insbesondere die Verknüpfung von Phantasie und heldenhafter, zeitlich unbestimmter Vorzeit einerseits mit der realen Lebenswelt von Mittelmeeranrainern des 7. Jahrhunderts andererseits, in der die Seefahrt ebenso sehr Wirtschaftsfaktor und verheißungsvolles Abenteuer wie lebensgefährliches Risiko ist und selbst sozial hochgestellte Persönlichkeiten nicht davor gefeit sind, unversehens als Sklaven zu enden. Dauerhaft bestehen kann in einer solchen Gesellschaft nur, wer tragfähige Bindungen hat – zu Eltern und Kindern, zum Ehepartner und zu Gefolgsleuten, aber nicht zuletzt auch zu den Göttern, deren Wohlwollen es sich zu erhalten gilt. In diesem Zusammenhang sieht Zimmermann nicht zuletzt auch das Schicksal der Atriden um Agamemnon, dessen Familie auf grausige Art zerbricht, als immer im Hintergrund mitzudenkende Folie für die trotz aller Gefahren für sämtliche Beteiligte erfolgreichere Heimkehr des Odysseus zu seiner Frau Penelope und seinem Sohn Telemach.

Ganz generell kann die Odyssee also auch unabhängig von ihrer Entstehungsepoche als Geschichte des Überstehens schwerer Zeiten mithilfe von Klugheit und Durchhaltevermögen gelesen werden (ob nun auf Odysseus selbst bezogen oder z.B. auch auf Penelope, die sich mit List und Tücke der zudringlichen Freier erwehren muss, um ihrem Mann treu zu bleiben). Auch diese Thematik trug dazu bei, ihr im Laufe der Jahrhunderte eine eifrige Rezeption zu sichern, über die Zimmermann in einem letzten Kapitel einen kurzen Überblick gibt, der den Schwerpunkt allerdings stark auf die Antike legt. Knappe Literaturhinweise und ein Register runden den Band ab.

Wer einen ersten Einstieg in die Odyssee sucht, ist mit dem kurzen Buch auf alle Fälle gut beraten, aber auch alle, die den Text selbst schon kennen, können Zimmermanns frische Deutungsansätze und insbesondere seine Einordnung in den historischen Entstehungszusammenhang mit Gewinn lesen.

Bernhard Zimmermann: Homers Odysee. Dichter, Helden und Geschichte. München, C.H. Beck, 2020, 128 Seiten.
ISBN: 978-3406750229


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur, Märchen und Mythen