Jesus und seine Welt

Cay Rademacher ist eigentlich vor allem als Journalist und Krimiautor bekannt, doch als studierter Historiker legt er mit Jesus und seine Welt ein geschichtliches Sachbuch für einen breiten Leserkreis vor, das für Christen wie Nichtchristen gleichermaßen interessant ist. Denn auch wenn Rademacher sich dem Menschen Jesus und seiner Umgebung aus historischer Perspektive nähert und deutlich macht, wo die Trennlinien zwischen dem wissenschaftlich Plausiblen und reinen Glaubensinhalten verlaufen, behandelt er die Religion durchaus mit Respekt.
Ein Problem bei vielen Persönlichkeiten der Antike – und zumal bei jemandem, zu dessen Lebzeiten noch nichts von dem Nachruhm zu ahnen war, den er einmal genießen würde – ist die relative Quellenarmut, die das Schreiben einer echten Biographie im neuzeitlichen Sinne erschwert bis unmöglich macht. Auch im Falle Jesu geben die Evangelien und wenige außerbiblische Texte nur einige Eckdaten vor. Rademachers Hauptaugenmerk gilt daher über weite Strecken der Schilderung des Umfelds, in dem Jesus wirkte und vor dessen Hintergrund seine radikalen religiösen Lehren zu verstehen sind.
Zum einen ist dies das antike Judentum, in dem mit Sadduzäern, Pharisäern, Essenern und Zeloten unterschiedliche Strömungen um Einfluss und Deutungshoheit konkurrierten, zum anderen das römische Reich mit seinen Provinzen und Klientelstaaten. Unter Rückgriff auf archäologische Funde und schriftliche Überlieferung beschwört Rademacher Licht- und Schattenseiten beider Kulturen plastisch herauf. Wer trockene historische Sachbücher eigentlich immer zu langweilig findet, sieht hier, dass es auch anders geht, denn Rademacher liefert eine packende Reportage aus einer vergangenen Welt und spielt dabei seine ganze journalistische Schreiberfahrung aus. Die Sachinformationen sind zutreffend und gut recherchiert. Nur in der Bewertung der paganen römischen Kulte als abergläubisch und innerlich nicht erfüllend scheint etwas zu deutlich die Sicht des späteren Beobachters durch, der schon um den Triumph monotheistischer Religionen weiß.
Notwendigerweise spekulativ müssen manche Überlegungen bleiben, die sich auf Jesus selbst beziehen – so etwa die Frage, ob dieser im nicht weit entfernt von Nazareth gelegenen Sepphoris schon früh mit hellenistischer Weltläufigkeit und vielleicht gar mit griechischen Theateraufführungen in Berührung gekommen sein mag, die seine spätere Predigttätigkeit ebenso beeinflusst haben könnten wie das dörfliche Leben seiner Jugend. Auch bei der Interpretation derjenigen biblischen Berichte über Jesus, die historisch zwar nicht extern Belegbares, aber doch zumindest Glaubhaftes schildern, bezieht Rademacher immer wieder die Epoche und ihre Besonderheiten mit ein, um deutlich zu machen, dass das gängige moderne Verständnis manchmal zu kurz greift (z.B. betont er bei der Geschichte über Jesu Tempelreinigung, dass die Vertreibung der Händler aus dem Tempel von der damaligen Öffentlichkeit nicht allein als Versuch der Trennung von Kommerz und Religion, sondern auch als Angriff auf den etablierten Opferkult an sich begriffen worden sein dürfte). Hier ergeben sich viele spannende Denkanstöße.
Eine knappe Liste von Buchempfehlungen zum Thema, ein Orts- und Personenregister sowie Kartenmaterial runden den kleinen Band ab. Im Prinzip sind diese Zusätze nützlich, aber bei der Karte von Judäa und angrenzenden Gebieten wünscht man sich, sie wäre etwas größer abgedruckt – wer hier die Ortsnamen entziffern will, braucht entweder sehr gute Augen oder eine Lupe.
Insgesamt ist das Buch jedoch ein lesenswerter Einstieg in die historisch-kritische Jesusforschung. Für alle, die sich schon etwas näher mit dem Thema befasst haben, lohnt sich die Lektüre immerhin zur Auffrischung von Kenntnissen, da hier der Forschungsstand auf sehr zugängliche Weise präsentiert wird.

Cay Rademacher: Jesus und seine Welt. Eine historische Spurensuche. Hamburg, Ellert & Richter, 2013, 160 Seiten.
ISBN: 978381905133


Genre: Biographie, Geschichte