Löwenmenschen und Schamanen

Lässt sich die materielle Kultur der Vor- und Frühgeschichte dank archäologischer Funde recht gut rekonstruieren, sind wir, was die geistige Welt der damaligen Menschen betrifft, auf Vermutungen angewiesen. Gerade spirituelle Vorstellungswelten erschließen sich oft nicht ohne Weiteres, obwohl man ahnen kann, dass es sie gegeben haben muss. Andrea Zeeb-Lang und Andy Reymann wagen sich in Löwenmenschen und Schamanen also an ein schwieriges Thema, wenn sie versuchen, aus Kunst, Bauwerken, Musikinstrumenten und anderen Objekten der Stein- und Bronzezeit, aber auch aus auffälligen Bestattungen Hinweise auf magische und insbesondere schamanische Praktiken abzuleiten. Da aus der behandelten Zeit selbst naturgemäß keine Schriftquellen existieren, müssen Vergleiche mit späteren Kulturen als Interpretationshilfe herangezogen werden.
Ein Überblick über das Phänomen Magie von der Antike bis heute bildet daher den Einstieg in die Untersuchung. In seiner Knappheit stellt er leider manches sehr verkürzt bis irreführend da (wenn z.B. die eigentlich primär frühneuzeitliche europäische Hexenverfolgung pauschal mit dem Mittelalter und der Inquisition verknüpft wird, entspricht das eher populären Klischees als dem aktuellen wissenschaftlichen Konsens).
Wichtiger für die Argumentation des Buchs ist glücklicherweise die ausführlicher geratene Einführung in die Thematik des Schamanismus, in der deutlich wird, dass bestimmte Erfahrungen und Praktiken kulturübergreifend auftreten: So ist etwa die Wahrnehmung geometrischer Formen in der ersten Phase der Trance weltweit belegt, und man kann davon ausgehen, dass auch schon steinzeitliche Schamanen ähnliche Eindrücke hatten. Auch das Gefühl, sich in ein Tier zu verwandeln, tritt in veränderten Bewusstseinszuständen bei Menschen der verschiedensten Hintergründe auf. Diese Beobachtung bildet den zentralen Ansatzpunkt für die darauffolgende Analyse altsteinzeitlicher Höhlenmalereien, in denen mehrfach Mischwesen aus Tier und Mensch dargestellt sind, die sich in Parallele zu Felsbildern des südafrikanischen Volks der San setzen lassen. Der Motivschatz der Kunst der San blieb über Jahrtausende relativ konstant und enthält oft Darstellungen sich in Trance tanzender und dann Tierverwandlungen durchmachender Schamanen. Eine entsprechende Interpretation hält das Autorenduo daher nicht nur für die sogenannten „Zauberer“ in der frankokantabrischen Höhlenkunst für wahrscheinlich, sondern auch für altsteinzeitliche Plastiken wie den berühmten Löwenmenschen von der Schwäbischen Alb.
Scheint hier der Fall noch klar zu sein, wird in den folgenden Kapiteln offensichtlich, dass die Deutung eines Funds oder Befunds als Anzeichen für Schamanismus oft nicht alternativlos sein muss. Ist etwa eine Rassel als bewusstseinsveränderndes Rhythmusinstrument zauberkundiger Personen oder doch nur als Kinderspielzeug anzusprechen? Sind geometrische Muster auf Gegenständen Widerspiegelungen von Tranceerfahrungen, stilisierte Wiedergabe ganz irdischer Dinge oder gar Verzierungen ohne tieferen Sinn? Weisen Begräbnisse mit für unsere Begriffe bizarren Beigaben (z.B. einem Menschenfuß) auf eine spirituelle Sonderrolle der Bestatteten hin, oder sind die Hintergründe weit prosaischer?
Zeeb-Lang und Reymann bevorzugen zwar zumeist die „magische“ Erklärungsvariante, aber ob sie überzeugender als die alltägliche wirkt, ist oft Ermessenssache.
Obwohl die beiden Autoren also nicht mit letzter Sicherheit den Nachweis führen können, dass all ihre Schlussfolgerungen der Realität entsprechen und nicht nur Spekulationen sind, liefern sie dennoch zahlreiche Möglichkeiten, Zauber und Animismus in prähistorischen Kontexten zu sehen. Ganz gleich, ob man sich ihrer Meinung immer anschließen mag oder nicht, sind das spannende Denkanstöße, die viele ihrem mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhang entrissene Erscheinungen zumindest mit einem potentiellen Sinngehalt füllen. Die letzten Geheimnisse wird man diesem Aspekt der Vor- und Frühgeschichte wohl nie entreißen können, aber die Löwenmenschen und Schamanen zeigen, wie sehr sich die Beschäftigung damit dennoch lohnt.

Andy Reymann, Andrea Zeeb-Lanz: Löwenmenschen und Schamanen. Magie in der Vorgeschichte. Darmstadt, Theiss (WBG), 2019 (Sonderheft der „Archäologie in Deutschland“ 16/2019), 112 Seiten.
ISBN: 9783806239904


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur