In ein Lost Paradise – ein verlorenes Paradies – verspricht die Kurzgeschichtensammlung von Annette van den Bergh einen zu führen, und vielleicht ist es angesichts dieses Glaubensinhalte evozierenden Titels kein Zufall, dass darin gerade 8 Texte versammelt sind, will man mit der christlich-mittelalterlichen Zahlensymbolik davon ausgehen, dass die 8 – als Zahl jenseits der 7 Tage der (Schöpfungs-)Woche – auf das Hinausgehen über das Gewohnte und Alltägliche, die Auferstehung und mithin den Neubeginn anspielt.
Freilich bekommt „Lost Paradise“ gleich in der ersten Geschichte Punkt am Horizont eine andere Bedeutung, denn dort ist es der Name eines Lokals, in dem – imaginiert oder real? – ein rauschhaftes Verhältnis mit durchaus surrealen Zügen seinen Anfang nimmt.
Eine Zweierbeziehung steht auch im Zentrum von Ein schöner Mund, wenn ein sogar sich selbst Unbekannter nach Gedächtnisverlust und Erkrankung auf der Quarantänestation eines Krankenhauses zu sich selbst zu finden versucht und jemand aus dem Pflegepersonal zu einem Rettungsanker in der verwirrenden Situation wird.
Sonne über Social Media dagegen befasst sich eher mit dem Umgang des Individuums mit der virtuellen Welt allgemein und wirft einen spöttischen Blick, von dem man sich durchaus ertappt fühlen kann, auf die Gewohnheiten und Rituale in den sozialen Medien.
Der Schrei führt allerdings wieder zwei Menschen zusammen, und das vor einem Posterdruck des titelgebenden Gemäldes in einer Berliner Bank. Aber kann eine Zweisamkeit, die vor einem so erschütternden Kunstwerk ihren Anfang nimmt, wirklich so problemlos und glatt verlaufen, wie es zunächst den Anschein hat?
In I tried to tell you wird das überbordende Herausbrechen negativer Emotionen nicht in ein Kunstwerk externalisiert, auch wenn es abermals um ein, wenn auch ganz anders geartetes, Paar geht und nebenbei auch noch Mobbing und der Kontrast zwischen Arbeits- und Privatleben eine Rolle spielen.
Das eingangs schon erwähnte Lokal „Lost Paradise“ kehrt im Nebensatz in Derweil eine Tat wieder, einer vielleicht als Gegenperspektivve zu Punkt am Horizont zu lesenden, düster-suizidalen Meditation über das Scheitern des Menschen an der Rolle als Schöpfer und Geschöpf einer oft unbarmherzigen Kultur.
Eine fehlt noch befasst sich, abermals im Kontext einer Paarbeziehung, mit dem Schreiben selbst und dem Konflikt zwischen Spielerischem und Strukturiertem, aber auch mit aktuellen Themen wie Corona und dem Ukrainekrieg und der Auswirkung dieser apokalyptisch anmutenden Krisen auf die Kreativität.
Mann und Frau – in diesem Fall ein Ehepaar – sind auch die Protagonisten in Das Haus. Während die Ehe gründlich gescheitert ist, halten beide aus unterschiedlichen Gründen an dem Haus fest, als sie die Scheidung will. Was zur Zerrüttung der Ehe geführt hat und welche Sicht die Partner jeweils darauf haben, enthüllt sich rückblicksartig erst nach und nach.
Prägend für das gesamte Buch ist ein ganz eigener Stil, der einen – mal umgangssprachlich, mal poetisch – in einen Strudel aus erlebter Rede und Empfindungen zieht, hinter dem man sich das äußere Geschehen, das diese Reaktionen des jeweiligen Ich-Erzählers (der nur der letzten Geschichte fehlt) auslöst, oft erst allmählich zusammenreimen muss. Gewürzt mit einem Schuss magischen Realismus liest sich das an vielen Stellen beunruhigend bis verstörend, gelegentlich trotz der vielen bedrückenden Elemente auch verblüffend leichtfüßig, lässt einen aber auf alle Fälle nicht kalt. Immer wieder werden dabei Verbindungen zu bildenden Künstlern – ob nun Munch oder van Gogh – gezogen, so dass die Worte nicht allein stehen, sondern zumindest im Hinterkopf immer wieder auch berühmte Gemälde evozieren. Ein weiteres wiederkehrendes Motiv sind Tiervergleiche: Von Kater und Katze über Hai, Lamm und Krähe bis hin zum Schmetterling durchstreift so mancher Vertreter der Fauna diese beängstigende Gedankenwelt und macht menschliches Verhalten greifbarer.
Ein abschließender Hinweis noch: Trotz des englischen Titels handelt es sich um ein deutschsprachiges Buch, auf das sich bei Interesse also auch alle, die nicht gern in Fremdsprachen lesen, unbedenklich einlassen können.
Annette van den Bergh: Lost Paradise. Short Stories. Norderstedt, BoD, 2022 (E-Book).
ISBN-13: 978-3-7568-6838-4