Papier ist ein Material, das aus unserem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken ist. Historisch betrachtet ist es aber eine noch relativ junge Erfindung, die alle Gesellschaften, die sie übernahmen, merklich veränderte. Letzteres ist das, worauf es Alexander Monro in Papier. Wie eine chinesische Erfindung die Welt revolutionierte vor allem ankommt. Um Papier selbst und seine Herstellung geht es zwar immer wieder, aber nur in relativ kurzen Abschnitten, und auch viele seiner Verwendungsmöglichkeiten werden nur gestreift. Im Vordergrund stehen unangefochten die Auswirkungen, die sich aus der Verfügbarkeit eines günstigen und massenhaft herstellbaren Beschreibstoffs für eine Kultur ergeben, insbesondere die rasche Verbreitung und Zugänglichmachung religiöser und politischer Ideen. Ein zweites Auf der Spur des Papiers ist das vorliegende Werk also nicht, sondern vielmehr eine schwungvolle Geistes- und Religionsgeschichte Eurasiens, die das Papier zum Ausgangspunkt nimmt, ohne ihm unbedingt die Hauptrolle einzuräumen.
Chronologisch der Ausbreitung des Papiergebrauchs folgend wird der durch ihn angestoßene Wandel am Beispiel Chinas – des Ursprungslands des Papiers -, der islamischen Welt und Europas geschildert. Bis das Papier die Bühne betritt, braucht es dabei jeweils einen gewissen Vorlauf, sind doch die spezifischen Veränderungen in den einzelnen Kulturräumen nur vor dem Hintergrund der jeweiligen Ausgangsbedingungen verständlich. So erfährt man viel über das auf Bambus und Seide schreibende Gelehrtentum im alten China, die Herausbildung des Islam als klassischer Schriftreligion und die Tatsache, dass gerade die bevorzugte Buchform des Codex und das lateinische Alphabet im spätmittelalterlichen Europa die Durchsetzung des Drucks mit beweglichen Lettern ermöglichten, die trotz entsprechender Erfindungen in China gescheitert war. Schlusspunkt der historischen Darstellung ist die französische Revolution, in deren Forderung nach Pressefreiheit und Abschaffung der Zensur Monro einen entscheidenden Meilenstein zu unserem heutigen Verhältnis zum Papier sieht.
Aufgelockert wird die Schilderung der großen Entwicklungslinien dadurch, dass immer wieder Einzelpersönlichkeiten eine ausführliche Würdigung erfahren: Ob nun Bai Juyi (ein chinesischer Dichter der Tang-Dynastie), der Prophet Mohammed oder der Reformator Martin Luther, sie alle werden biographisch und mit ihrem Einfluss auf Schrift- und Publikationskultur vorgestellt. Während der Zusammenhang mit dem Papier bei manchen von ihnen auf den ersten Blick deutlich wird – so konnten sich etwa Luthers Gedanken nur durch gedruckte Flugblätter so rasch und umfassend verbreiten, dass sie europaweit eine Massenbewegung auslösten -, besteht er bei anderen Gestalten allenfalls indirekt. Auch bei den übrigen zahlreichen Exkursen, etwa zur Architektur, entfernt sich der Text stellenweise sehr weit von seinem zentralen Thema, doch da Monros Sprache sich in der kenntnisreichen Übersetzung durch Yvonne Badal angenehm flüssig liest, lässt man sich gern durch alle Abschweifungen mitziehen.
Am Ende darf natürlich der Blick auf die moderne Entwicklung hin zur fortschreitenden Digitalisierung nicht fehlen. Obwohl Monro hier durchaus eine Ablösung des Papiers auf manchen Gebieten konstatiert, geht er dennoch davon aus, dass es in mancherlei Hinsicht unersetzlich bleiben wird – nicht nur dank seiner oft beschworenen Haptik, sondern auch, weil seine Verlässlichkeit gegenüber der Unbeständigkeit computergestützter Daten Vorteile hat. Dieser Gedanke dürfte alle Freunde von Papierbüchern hoffnungsvoll stimmen.
Alexander Monro: Papier. Wie eine chinesische Erfindung die Welt revolutionierte. München, C. Bertelsmann, 2015, 543 Seiten.
ISBN: 9783570100103