Die Biologiestudentin Isa ist als Praktikantin eines Forschungsprojekts in den tschechischen Wäldern unterwegs, als dort ein von einem Hundeangriff übel zugerichteter Mann gefunden wird, der einen toten Raben bei sich hat. Auch wenn Isa Alexej, wie er sich nennt, zunächst für einen exzentrischen Aussteiger hält, fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Sie ahnt nicht, dass er in Wirklichkeit ein Gestaltwandler ist, der gewöhnlich mit einem ganzen Schwarm von Schicksalsgefährten als Rabe durchs Land zieht. In dieses Dasein würde Alexej auch am liebsten so schnell wie möglich zurückkehren. Doch ein unbekannter Feind stellt den Rabenmenschen erbarmungslos nach und zwingt Alexej so, sich seiner verdrängten Vergangenheit zu stellen – und der Frage, wie Isa damit umgehen wird, dass er kein Mann wie alle anderen ist …
Die Grundidee von Rabenblut kennt man so oder so ähnlich aus vielen Romanen der Paranormal-Romance-Sparte: Eine junge Frau verliebt sich in einen Mann, der sich als übernatürliches Wesen entpuppt und aus dessen Welt den beiden handfeste Gefahr droht. Auch der Wechsel zwischen den beiden Ich-Erzählern Isa und Alexej und die leichte, eingängige Sprache (der man manchmal zur Abwechslung ein paar längere Sätze gewünscht hätte) sind für das Genre typisch.
Einige Besonderheiten heben Nikola Hotels Buch jedoch über den Durchschnitt hinaus. Vor allem sind es die liebevoll gezeichneten Figuren, die Vergnügen bereiten und denen die Autorin Ecken und Kanten zugesteht. Gerade Alexej ist kein ganz glatter Held, sondern eine zerrissene Gestalt, der es nicht leicht fällt, Glauben, Rabennatur und menschliche Liebe zur Musik unter einen Hut zu bringen. Die klassische Musik, die ihm als Klaviervirtuosen besonders am Herzen liegt, ist denn auch einer der Bereiche, die Hotel sehr intensiv und voller Begeisterung heraufbeschwört. Ein weiterer ist das Verhalten von Raben, von ihren Ernährungsgewohnheiten über ihre sozialen Beziehungen bis hin zu ihrer Zusammenarbeit mit Wölfen. Diesbezüglich merkt man dem Roman die gründliche Recherche an, ebenso in den Passagen, in denen es um Wald und Wildtiere allgemein geht. Hier macht es Spaß, den Wegen der Protagonisten zu folgen, besonders, da auch der Humor nicht zu kurz kommt (Alexej darf z.B. auch schon einmal gedankenverloren ein paar Asseln verspeisen, ohne daran zu denken, dass er erstens gerade nicht in Rabengestalt und zweitens in Gesellschaft etwas zu vieler Menschen ist).
Gegen Ende der Geschichte nehmen wilde Action und Dramatik dann überhand, und ob man sich mit jeder inhaltlichen Entwicklung anfreunden kann, ist wohl Geschmackssache (so bleibt z.B. ein brutaler Vergewaltigungsversuch mehr oder minder ohne Konsequenzen, weil der Täter bald darauf dem Opfer in einer anderen brenzligen Situation beisteht – hier hat man dann doch das Gefühl, dass die ungute Sichtweise mitschwingt, dass machohaftes Gebaren bis hin zur sexuellen Gewalt durch die Übernahme einer Beschützerrolle in gewissem Maße aufgewogen werden könne). Überdeutlich ist auch, dass man es hier mit einem Reihenauftakt zu tun hat: So manch eine Frage in Bezug auf die gestaltwandelnden Raben bleibt offen, die Bedrohung für sie besteht ungebrochen fort, und die letzten Sätze des Romans sind ein einziger Aufhänger für Folgebände.
Diesen leichten Wermutstropfen zum Trotz bietet Rabenblut aber über weite Strecken gute und mitreißende Unterhaltung. Wer gern für ein paar Stunden in eine attraktive Fantasywelt abtauchen und nebenbei noch ein klein wenig über Raben lernen möchte, ist mit diesem Buch gut beraten.
Nikola Hotel: Rabenblut. Nur einen Flügelschlag entfernt. Luxemburg, 47North (Amazon), 2015 (Original: 2012), 448 Seiten.
ISBN: 9781503951310