Schleimig, kannibalisch veranlagt, mit Gift ausgestattet, alles andere als langlebig und noch dazu von allerlei schaurigem Seemannsgarn umwoben: Ein Oktopus ist auf den ersten Blick nicht gerade der ideale Sympathieträger. Die Naturkundlerin Sy Montgomery blendet diese eher unangenehmen Eigenschaften von Kraken in ihrem klugen Sachbuch Rendezvous mit einem Oktopus nicht aus, zeigt aber mit viel Verve, Nachdenklichkeit und Herzblut, dass man die Meerestiere auch ganz anders wahrnehmen kann: als faszinierende, intelligente und ungemein erfindungsreiche Wesen, die nicht nur zu verblüffenden Wahrnehmungen und schier unglaublichen körperlichen Leistungen in der Lage sind, sondern auch jeweils eine ganz individuelle Persönlichkeit haben – mithin also eine Seele, wie es der englische Originaltitel The Soul of an Octopus andeutet.
Montgomery stützt sich bei ihrer Annäherung an die Kopffüßer überwiegend auf Erfahrungen mit Pazifischen Riesenkraken im New England Aquarium in Boston, mit denen sie über einen längeren Zeitraum hinweg interagieren durfte, aber auch auf Beobachtungen von Oktopoden in freier Wildbahn bei Tauchgängen vor Mexiko und in Polynesien. Schnell wird dabei deutlich, dass wirklich jeder Krake seine Eigenarten hat und auch ganz unterschiedlich auf verschiedene Menschen reagiert. Neben dem Leben und leider oft auch Sterben ihrer tierischen Protagonisten skizziert Montgomery so auch Charakter und Biographien der Personen, die mit ihnen in Kontakt kommen, vom Aquariumsmitarbeiter über den alternden Ehrenamtler oder die ebenfalls freiwillig im Aquarium tätige autistische Schülerin bis hin zur Psychologin, die eine Persönlichkeitstest für Tintenfische entwickelt. Das gemeinsame Interesse an den Tieren führt eine Vielfalt nicht alltäglicher Typen zusammen, aber man erfährt nicht nur etwas über ihre teils amüsanten, teils anrührenden Marotten, sondern auch viel über die Abläufe in einem großen Aquarium, in der Forschung und beim Tauchen, das sich als komplizierter erweist, als Montgomery es sich vorgestellt hat.
Detailgenau porträtiert werden aber natürlich vor allem die Kraken selbst, inbesondere das eindrucksvolle Weibchen Octavia, mit dem Montgomery sich regelrecht anfreundet. Die Schilderung ihrer Sinneseindrücke und Gedankenspiele beim Umgang mit dem Oktopus stehen in bester Tradition des englischsprachigen nature writing und eröffnet gerade dadurch, dass Emotionen und Assoziationen nicht nüchtern ausgeblendet werden, spannende Perspektiven auf eine aus Menschensicht doch sehr fremdartige Welt. Allerdings beschleichen einen beim Lesen immer wieder Zweifel, wie gut sich Oktopoden eigentlich überhaupt für eine Haltung in Gefangenschaft eignen, und das nicht nur wegen ihrer notorischen Ausbruchsfreude. Bei allem Bemühen seitens der Aquarien wirkt es doch ungemein schwierig, einen so komplexen Lebensraum wie den, der den Kraken in freier Natur zur Verfügung steht, adäquat für die neugierigen und stets nach Beschäftigung suchenden Tiere nachzustellen. So stimmt die Lektüre trotz der Begeisterung, die sie für das Meer und seine Bewohner wecken kann, nicht nur fröhlich, aber lohnend ist sie auf jeden Fall.
Abschließend noch ein Tipp für alle, die sich von Sy Montgomerys Tierliebe und Einfühlungsvermögen angesprochen fühlen, aber mit Oktopoden so gar nicht warm werden können: Montgomerys älteres Buch Das glückliche Schwein, in dem sie das Leben ihres nach dem Dirigenten Christopher Hogwood benannten Hausschweins schildert, liest sich genauso nett wie Rendezvous mit einem Oktopus und kann mit einer unmittelbarer zugänglichen und überdies sehr charmanten Hauptfigur aufwarten.
Sy Montgomery: Rendezvous mit einem Oktopus. Zürich, Diogenes, 2019, 384 Seiten.
ISBN: 9783257344533