Sonnenhymnen

Der Große und der Kleine Sonnenhymnus (um 1345 v. Chr.), die dem Pharao Echnaton zugeschrieben werden, der in ihnen als Sprecher erscheint, gehören zweifelsohne zu den bekanntesten und eindrucksvollsten Zeugnissen der altägyptischen Literatur. In Gräbern hochrangiger Ägypter als Wandinschriften überliefert, preisen die beiden Hymnen den Sonnengott nicht nur als Schöpfer, sondern auch als Lebensspender, der seine Welterschaffung täglich erneuert, und betonen sein besonderes Verhältnis zum Pharao. Die heraufbeschworenen Bilder aus Natur und Alltagsleben haben sich über die Jahrtausende hinweg ihre Frische bewahrt und wirken auch heute noch unmittelbar ansprechend.
Christian Bayers zweisprachige Ausgabe der Sonnenhymnen, die dem Originaltext in Hieroglyphen eine zeitgemäße deutsche Übersetzung gegenüberstellt, ist zum einen eine gelungene Textedition, die in minutiösen Kommentaren Interpretationsansätze liefert, aber auch sehr offen mit Überlieferungs- und Übersetzungsproblemen umgeht und Unsicherheiten nicht zu überspielen versucht. Zum anderen kann das kleine Bändchen jedoch auch wunderbar als Einführung in die Amarna-Zeit allgemein dienen und Echnaton ein wenig fassbarer machen, der hier weder als großer Visionär des Monotheismus gefeiert, noch als engstirniger Tyrann verteufelt wird. Bayer weiß vielmehr aufzuzeigen, dass der Pharao im Prinzip zunächst nur konsequent die Politik seines Vaters Amenophis III. fortsetzte, Sonnenkult und Königtum enger als je zuvor aufeinander zu beziehen, dabei aber wohl unterschätzte, wie sehr die Einengung der Sonnenverehrung auf Aton (den in der sichtbaren Sonne gegenwärtigen Aspekt der Gottheit) zuungunsten des traditionell als Götterkönig verehrten Amun als Sakrileg empfunden werden würde. Obwohl die neue Religion daher unter seinen Nachfolgern keinen Bestand hatte und es auch rasch zur Aufgabe seiner neugegründeten Residenz Achet-Iten (Achet-Aton, heute Amarna) kam, war Echnatons Wirken laut Bayer indirekt folgenreich: Der Gott Amun erlangte seine religionsbeherrschende Stellung nicht zurück, sondern blieb einer unter mehreren, und die bis zu Echnaton unangefochtene religiöse und politische Dominanz der Stadt Theben war gebrochen.
Über diese historischen Schlaglichter hinaus nimmt Bayer die Sonnenhymnen jedoch auch unter der religions- und literaturhistorisch interessanten Perspektive ihrer Ähnlichkeit zum Psalm 104 der Bibel (der in der Lutherübersetzung im Buch abgedruckt ist) in den Blick. Während sich die Hymnen in den theologischen Nuancen und in ihrer Entstehungszeit selbstverständlich von dem wesentlich jüngeren Psalm unterscheiden, dessen Verfasser wohl auch keine direkte Kenntnis der ägyptischen Texte hatte, gleichen sich manche der heraufbeschworenen Bilder und der genutzten sprachlichen Wendungen frappierend. So ist wohl davon auszugehen, dass sich bestimmte Arten des Redens über den Schöpfergott und eine Vielfalt literarischer Motive in der Welt Ägyptens und des Alten Orients über die engeren Kulturgrenzen hinaus ausbreiteten und so durch zahlreiche Glaubenstransformationen ihren Weg bis in die Moderne fanden.
Kartenmaterial und Umzeichnungen von Kunstwerken runden den empfehlenswerten kleinen Band ab, der eigentlich für alle an Ägypten Interessierten ein Muss ist.

Echnaton: Sonnenhymnen. Ägyptisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Christian Bayer. Stuttgart, Reclam, 2007 (RUB 18492), 126 Seiten.
ISBN: 9783150184929


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur, Märchen und Mythen