The Amazons. Lives and Legends of Warrior Women across the Ancient World

Die Amazonen – ein kriegerisches Frauenvolk mit teilweise recht rauen Sitten – sind ein unverzichtbarer Bestandteil der antiken Mythologie. Dass die zahlreichen Geschichten um sie einen wie auch immer gearteten wahren Kern haben könnten, wird jedoch in der Forschung oft bestritten. Dieser Position stellt Adrienne Mayor in The Amazons die differenzierte und durchaus überzeugende These entgegen, dass der eigentliche Ursprung der griechischen Amazonenvorstellung zwar nicht mehr fassbar ist, ihre spätere Ausgestaltung aber in hohem Maße von realen Phänomenen beeinflusst war.
Auch Mayor nimmt die allgemein bekannten Sagen zum Ausgangspunkt, zeigt aber auf, dass die tragischen Schicksale von Penthesilea, Hippolyte oder Antiope nur einen Bruchteil der antiken Überlieferung über die Amazonen darstellen und noch nicht einmal unbedingt repräsentativ sind.
Während in den meisten heute noch berühmten Amazonenmythen nämlich stereotyp die Kriegerin von einem männlichen Helden (wie etwa Achill oder Herakles) besiegt wird, sieht es in der Kunst, in historiographischen Texten, in Stadtgründungssagen oder im lokalen Kult um Amazonengräber oft anders aus. Hier treten Amazonen in vielfältigen, durchaus auch positiv konnotierten Rollen auf und bleiben nicht das faszinierende, am Ende aber doch überwundene Gegenbild zur erwünschten Gesellschaftsordnung.
Bemerkenswert ist daran, dass ab dem 6. Jh. v. Chr. insbesondere in der Vasenmalerei, aber auch in manchen Sagen Details etwa der Bekleidung und Bewaffnung aufscheinen, die Amazonen in den skythischen Kulturraum verweisen.
Mayor vergleicht diese Darstellungen daher mit den reichhaltigen archäologischen Funden aus den Bestattungen eurasischer Steppennomaden, insbesondere der Skythen und Sarmaten, mit denen die Griechen am Schwarzen Meer direkt in Berührung kamen. Zwar gab es unter den Nomaden kein reines Frauenvolk wie die mythischen Amazonen, aber im Vergleich zu den rigiden altgriechischen Geschlechterrollen waren Aufgabenverteilung und Beziehungen zwischen Mann und Frau hier flexibler und einem gewissen Maß an Gleichberechtigung näher. So deuten Grabbeigaben und die Abnutzungsspuren an den Überresten Verstorbener darauf hin, dass es weitreichende Überschneidungen zwischen traditionell als „männlich“ und „weiblich“ eingestuften Tätigkeitsfeldern gab: Frauen konnten an Kämpfen und Jagden ebenso beteiligt sein wie umgekehrt Männer an Textilherstellung und Kinderbetreuung.
Den mit dieser  für sie fremden Welt konfrontierten Griechen – so Mayors ansprechende zentrale Vermutung – mögen die unabhängigen und kämpferischen Frauen wie sagenhafte Amazonen erschienen sein, so dass diese in der Folgezeit mit diversen Charakteristika der echten Nomadinnen ausgestattet wurden. Bestechend ist in dem Zusammenhang vor allem die Beobachtung, dass bisher von der Wissenschaft als Nonsens-Inschriften abgetane Buchstabenfolgen auf Amazonenvasen durchaus einen Sinn ergeben – allerdings nicht auf Griechisch, sondern als Eigennamen oder kurze Äußerungen aus Sprachen des eurasischen Steppenraums.
Überall in diesem Gebiet und an seiner Peripherie berichten sowohl Mythen als auch glaubhafte Quellen die gesamte Antike hindurch immer wieder von Kämpferinnen. Mayor trägt hier eine Fülle von Details zusammen, und so lernt man die Nartensagen des Kaukasus ebenso kennen wie angebliche „Amazonen“, denen Alexander der Große und Pompeius begegneten, oder heute eher unbekannte Einzelpersönlichkeiten wie Hypsikratea, die letzte Ehefrau des Mithridates VI. von Pontus, die ihren Mann unter anderem als Reiterkriegerin unterstützte.
Eine reiche Bebilderung mit Kartenmaterial sowie Fotos von Kunstwerken und archäologischen Funden (teilweise in Farbe) rundet den schönen Band ab.
Was dem Buch fehlt, ist ein Schlusswort oder Fazit. Der Text endet recht unvermittelt nach der Schilderung von Heldinnen der chinesischen Geschichte und Mythologie, und man wünscht sich, Mayor hätte hier noch einmal Folgerungen aus der Darstellung gezogen oder zumindest ihre bisherigen Ergebnisse zusammengefasst. Durch diesen Verzicht behalten die Amazons ein wenig den Charakter einer mit viel Verve und Akribie zusammengetragenen Materialsammlung, deren Verdienst es ist, das in Archäologie und Geschichte oft allenfalls als Kuriosum am Rande behandelte Thema kriegerischer Frauen in der Antike in den Mittelpunkt zu rücken und in seiner kulturellen Bedeutung fassbar zu machen.

Adrienne Mayor: The Amazons. Lives and Legends of Warrior Women Across the Ancient World. Princeton und Oxford, Princeton University Press, 2016 (vorliegende Ausgabe; Original: 2014), 519 Seiten.
ISBN: 9780691147208


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur