Urban Fantasy: Going Intersectional

Das Konzept der Intersektionalität beschreibt die Tatsache, dass Personen oft nicht nur einer einzigen marginalisierten Gruppe angehören, sondern in unterschiedlichen Aspekten ihres Daseins mehreren Diskriminierungserfahrungen gleichzeitig ausgesetzt sind, die sich überschneiden und potenzieren. Gerade in der deutschen Fantasy wird diesem Blickwinkel nur vereinzelt Beachtung geschenkt – ein Manko, gegen das sich Aşkın-Hayat Doğan und Patricia Eckermann mit der von ihnen herausgegebenen umfangreichen Anthologie Urban Fantasy: Going Intersectional wenden.

Der erste Beitrag überzeugt allerdings nur bedingt. Isabella von Neissenau überträgt in Die Prinzessin, in der die Titelfigur die Hintergründe des Todes ihrer Schwester erforscht, durchaus geschickt das alte Motiv, dass man in manchen magisch aufgeladenen Situationen das Geschlecht seines Gegenübers richtig einschätzen sollte, in den Transgender-Bereich. Daraus wird aber leider eine reichlich blutrünstige und finstere Geschichte, die noch dazu die deprimierende Moral bereithält, dass man im Leben doch nicht voll als das anerkannt wird, was man ist, sondern bestenfalls im Sterben eine kleine Bestätigung erhalten kann.

Vordergründig ebenfalls düster, aber von der Grundstimmung her doch wesentlich hoffnungsvoller ist James A. Sullivans sehr berührender Beitrag Die letzte Heimkehr. Zwar führen hier nicht nur Hautfarbe, Geschlecht und Armut zur Diskriminierung einer Einwanderin in Irland, sondern auch noch übernatürliche Aspekte ihrer Identität (Gargoyles haben es nicht leicht – und ihre noch mythischeren Freundinnen auch nicht!), aber trotz aller Angriffe und Härten, denen sich die mit einer starken Stimme versehene Ich-Erzählerin ausgesetzt sieht, überwiegt letztlich das Lob auf Durchhaltevermögen und Zusammenstehen selbst unter widrigsten Umständen.

Annie Wayes Vegan für fortgeschrittene Tote fährt einiges an Veganer-, Schwulen- und Männlichkeitsklischees auf, um die abenteuerlichen Missgeschicke des Ich-Erzählers zu schildern, ist aber dafür, dass es, durchaus mit Ekelfaktor, um Zombies geht, ungeahnt witzig.

Die intensive nächste Geschichte, Das Innerste der Welt von Lena Richter, lässt jedoch wieder eine beklemmendere Stimmung aufkommen. Die Protagonistin – „die letzte Hexe von Berlin“ – hat nicht nur mit äußeren Härten zu kämpfen, sondern auch mit einer chronischen Krankheit, wobei die Erzählweise in der zweiten Person sie dem Lesepublikum als Identifikationsfigur in einem Ringen mit Erinnerungen an die ostdeutsche Vergangenheit und eine bewegte Familiengeschichte förmlich aufzwingt.

Aufmunternder und ziemlich liebenswert kommt Die Pirouette von Ilka Mella daher, in der ein ballettliebender Troll und die übergewichtige Tochter einer Tanzlehrerin beide ihre liebe Not damit haben, vorurteilsbeladene Angehörige davon zu überzeugen, sie nicht länger mit verletzenden Bemerkungen zu gängeln, sondern ihre Träume leben zu lassen. Das alles ist mit so viel Glauben an die Macht der Freundschaft und der Fähigkeit, sich selbst treu zu bleiben, erzählt, dass man der Geschichte schon fast verzeiht, dass der arme Protagonist „Francois“ ohne Cedille (ç) auskommen muss und bei den französischen Zitaten ein paar Accents fehlen.

Aşkın-Hayat Doğans Burkitty setzt mit einem provokanten Spiel mit Erwartungen ein, entwickelt sich dann aber zur flotten und actionreichen Superheldinnengeschichte, in der von Nazi-Raubkunst über einen optisch höchst interessanten Burkini bis hin zu den Tücken der Arbeitsteilung bei der Haushaltsführung mancherlei unter einen Hut gebracht wird, was man gewöhnlich nicht in ein und derselben Geschichte finden würde.

Ronja Schrimpfs Zuhause greift mit den Buschbränden in Australien ein aktuelles Thema auf und nutzt es am Beispiel einer der Katastrophe nur knapp entkommenen Gestaltwandlerin als Hintergrund für eine nachdenklich stimmende, aber zugleich hoffnungsvolle Geschichte um den früheren und heutigen Umgang der westlichen Welt mit Indigenen.

Robin Nayeli schildert in ZuneigungsFormen humorvoll in einem so authentisch umgangssprachlichen Plauderton, als würde einem die Geschichte am Telefon erzählt, die Nöte einer Legasthenikerin auf Jobsuche. Hätte man es als Mensch in der Situation schon schwer genug, sieht man sich als asexueller Sukkubus aber noch einmal vor ganz andere Probleme gestellt, für die sich allerdings am Ende doch noch eine originelle Lösung findet.

Anders als die überwiegende Mehrzahl der an der Anthologie Beteiligten wählt Oliver Kontny in Antimykotikum nicht die Perspektive einer selbst marginalisierten Person, sondern die eines machohaften Mannes, der zunächst gar nicht merkt, wie indiskutabel seine vermeintlich „normalen“ Überzeugungen sind. Der im Prinzip interessante Ansatz läuft aber auf eine etwas bizarre und in mehrerlei Hinsicht problematische Lösung hinaus, kann man sie doch auch so verstehen, dass die Ansicht des Erzählers, dass die Gender Studies eine Art Sekte sind, die sich die Zwangsbekehrung der Welt auf die Fahnen geschrieben hat, in gewisser Weise bestätigt wird.

Dagegen lädt Teresa Teskes menschlicher und warmherziger Beitrag Magiebegabt, 35F, in Ausbildung von Anfang bis Ende stimmig zum Mitempfinden ein. Die Hauptfigur bekommt nach langem Unverständnis ihrer Familie für ihre Kombination aus Bisexualität, psychischen Problemen und außer Kontrolle geratener Magie endlich eine Chance, sich beruflich zu beweisen, aber dabei kann so einiges schiefgehen …

Judith Vogt versetzt in Majas Queste das klassische Fantasymotiv der Weltenrettung durch eine Auserwählte in eine Stadt, die von einem übernatürlichen Nebel geplagt wird, der sich als Chiffre für die derzeitige Pandemiesituation lesen lässt. Für Maja, die das Down-Syndrom hat, und die Erzählerfigur in ihrer Begleitung wächst sich der Weg zum Supermarkt unversehens zum Abenteuer aus, in dem der Rat mitschwingt, sich nicht von der eigenen Angst aufhalten zu lassen, sondern die Dinge anzupacken.

Serenade und die Berge von Luna Day ist zwar nominell auch eine Kurzgeschichte, liest sich aber fast schon eher wie ein Romananfang und ist weniger tragisch, als die Thematik zunächst vermuten lässt: Die Titelheldin Serenade muss als Sirene Menschen deren Lebensenergie rauben, um selbst überleben zu können, nach einer Zufallsbegegnung tut sich ihr jedoch ein möglicher neuer Weg auf.

In Stefanie Hubers Platanendom wird das Berlin der Moderne in einer eher an magischen Realismus als an typische Fantasy gemahnenden Schilderung zur verstörenden Dystopie, die das Bewusstsein dafür schärft, bis zu welchem Grade Rassismus eine Art Alltagsgrundrauschen bildet, dem niemand entkommen kann – am allerwenigsten natürlich die davon Betroffenen.

Ein wenig aus dem Schema der Anthologie fällt Korallen von Marcel Lewandowsky und Schwartz, denn hier geht es nicht um intersektionale Diskriminierung, sondern um das immer tiefere Abgleiten eines in seiner gleichgesinnten Social-Media-Bubble gefangenen Verschwörungsgläubigen in eine radikale Weltsicht. Das liest sich sprachlich gelungen und zutiefst erschreckend, hat aber mit dem eigentlichen Thema eher am Rande zu tun.

Auch die folgende Geschichte, Jade S. Kyes Gezeiten, ist bedrückend, wenn auch auf andere Art. Hier wird anhand einer Konferenz von Menschen und magischen Wesen aus Sicht der Meerfrau Lorenna deutlich, wie oft es zwar Lippenbekenntnisse zur Beendigung von Diskriminierungen gibt, aber in Wirklichkeit nur von Marginalisierten erwartet wird, sich anzupassen, ja keine Einwände gegen ihre schlechte Behandlung zu erheben und trotz aller Kränkungen auf Abruf zu Hilfsdiensten bereitzustehen.

Amalia Zeichnerin greift in Kein Allheilmittel das in der Fantasy geläufige literarische Motiv auf, dass Übernatürliches – in diesem Fall die Verwandlung in einen Vampir – als Heilungsmethode für gänzlich unmagische Gebrechen in Erwägung gezogen wird. Doch die Hamburger Bibliothekarin, die als Ich-Erzählerin mit dem Gedanken spielt, sich so aus ihrer bipolaren Störung zu retten, hat nicht alles bedacht …

Auch Nora Bendzko spielt in Wünsch mir die Apokalypse mit bekannten Mustern. Von der magischen Schule bis hin zu einer Dreiecksbeziehung mit Werwolf und Vampir sind alle sattsam bekannten YA-Klischees dabei, werden aber nicht nur dadurch genüsslich auf den Kopf gestellt, dass die genretypische Weltrettung hier schon den Ausgangspunkt der Handlung bildet. Das Monster scheint besiegt, und der deutsch-tunesische Ich-Erzähler hat alle Zeit der Welt, sich seinem Liebeskummer hinzugeben – bis etwas Unvorhergesehenes passiert und Köln im Chaos versinkt.

In Jenny Cazzolas Todesduft um Mitternacht wechseln sich zwei Ich-Erzählerinnen damit ab, einen unersprießlichen Vorfall in der Berliner U-Bahn zu schildern: Was für Außenstehende die traurigerweise alltägliche Belästigung einer jungen Muslima durch einen Rüpel vor den Augen einer durch körperliche Einschränkungen in ihren Reaktionsmöglichkeiten ausgebremsten Zeugin sein könnte, gewinnt dadurch eine zusätzliche Dimension, dass alle Beteiligten übernatürliche Eigenschaften haben.

Die Jurte des Todes von Patricia Eckermann dürfte gerade auch Literatur- und Geschichtsinteressierte mitten ins Herz treffen, denn die schonungslose Aufarbeitung der Geschichte der Schwarzen in Deutschland, vom Elend der Völkerschauen bis zu rassistisch motivierten Morden der jüngsten Vergangenheit, ist eine anspielungsreiche Wucht, die das mittelalterliche Motiv des Todes (bzw. der Todesmahnung) als Spiegel des Lebens in die Gegenwart transponiert. Was die frisch in die Wechseljahre gekommene Siggi, die aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Hautfarbe gelernt hat, sich immer brav anzupassen, hier erlebt, kann einen animieren, sich auch selbst einmal den Spiegel vorzuhalten.

David Grade entwirft in Kreise eine wilde Mischung aus Schizophrenie, Corona-Pandemie, Fluchtthematik, rassistischer Polizeigewalt und Anspielungen auf Michael Endes Unendliche Geschichte. Der Einstieg fällt nicht leicht, und nach einem verstörenden Verlauf ist auch das  Ende eher unbefriedigend.

Ein versöhnlicheres Leseerlebnis bietet zum Abschluss Me Time von Victoria Linnea und Alexander Neumann. Die pflichtbewusste und hart arbeitende Mỹ, die ständig das Urteil anderer über sich vorwegnimmt und ihr ganzes Leben danach ausrichtet, erhält zum Geburtstag von unbekannter Seite einen rätselhaften Gutschein für einen Restaurantbesuch, der es in sich hat und eine ganz spezielle Form der Küche bietet …

Welche der Blüten aus diesem bunten Strauß einem besonders zusagen, ist sicherlich Geschmackssache, aber gerade in ihrer Verschiedenartigkeit und Fülle schärfen sie den Blick für die großen und kleinen Ungerechtigkeiten des Alltags und machen doch zugleich Mut, die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht aufzugeben. Wer moderne Perspektiven sonst eher in der englischsprachigen Phantastik sucht, wird hier die angenehme Überraschung erleben, dass es auch schon im Original auf Deutsch verfasste Fantasy-Kurzgeschichten gibt, die progressiver sind als der Genredurchschnitt.

Aşkın-Hayat Doğan, Patricia Eckermann (Hrsg.): Urban Fantasy: Going Intersectional. Berlin, Ach je Verlag, 2021, E-Book.
ISBN: 978-3-947720-65-1

 


Genre: Anthologie