Die Märchen der Brüder Grimm sind bis heute jedem ein Begriff; die dagegen, die Johann Wilhelm Wolf ebenfalls im 19. Jahrhundert gesammelt hat, haben es nicht zu einem vergleichbaren Bekanntheitsgrad gebracht. Dementsprechend trägt die von Christian Döring erstellte Neuausgabe der 51 Geschichten auch den Titel Verschollene Märchen. Dass sie hier der Vergessenheit entrissen werden, lohnt sich durchaus, denn sie sind schon etwas ganz anderes als die gewohnten und geglätteten Märchen, die man allgemein mit der Textgattung assoziiert.
Hier sind Gut und Böse nicht immer ganz klar voneinander getrennt (sei es, dass es ungesühnt bleibt, dass der Held seinen treuen Diener erschlägt, sei es, dass sich eine Hauptfigur am Ende in der Hölle widerfindet, oder sei es, dass der Protagonist von seiner untreuen Ehefrau und deren Galan ungestraft aus dem Haus verdrängt wird, nur um sich selbst anderswo auf unerwartete Art Versorgung zu erschleichen).
Um eine weitere Besonderheit der Sammlung zu verstehen, lohnt ein Blick ins Wolfs Vorwort, denn obgleich der Klappentext betont, Wolf und sein Schwager hätten „in den Spinnstuben den Odenwalds und in den Wirtshäusern an der Bergstraße“ Märchen aufgezeichnet, stammt ein erheblicher Teil der Geschichten von Soldaten. Wolfs Schwager Wilhelm von Ploennies war hessischer Offizier und ließ seine Untergebenen die Märchen erzählen, die sie kannten. Kein Wunder also, dass die Märchenhelden hier nicht selten selbst Soldaten oder viel häufiger noch Deserteure sind. Diese vielleicht von den Erzählern selbst vorgenommene Anpassung verrät viel über die Flexibilität des Märchens als Textart, aber auch über Alltagssorgen, Hoffnungen, Sehnsüchte und Selbstironie der Menschen, die sich bis zu einem gewissen Grade in die Geschichten hineinprojizierten.
Ausschließlich amüsant zu lesen ist das allerdings nicht immer, denn die Texte spiegeln auch manche Vorurteile ihrer Entstehungs- bzw. Sammlungszeit wider, die heute noch ungut nachwirken, so etwa, wenn die Schurkenrollen mehrfach mit Angehörigen anderer Religionen (wie einem Hofjuden oder einem türkischen Sultan) besetzt werden oder wenn das allmähliche Weißwerden schwarzer Prinzessinnen ihre Erlösung von einem Fluch symbolisiert.
Als reine Unterhaltungslektüre taugt das Buch nicht nur deshalb allenfalls bedingt. Trotz einer im Prinzip recht großen Vielfalt von Märchentypen (vom Zaubermärchen über Schwänke und Tiermärchen bis hin zur grotesken Lügengeschichte) wiederholen sich nämlich auch bestimmte Handlungsgrundmuster und Motive über das allgemein Märchentypische hinaus. So sind etwa mehrere Geschichten vertreten, die vom Schema her in etwa dem Teufel mit den drei goldenen Haaren entsprechen (auch wenn hier am Ende nicht immer ein König der Genarrte und Bestrafte ist). In manchen Fällen ahnt man dagegen das literarische Vorbild. So folgt z. B. Der Pfiffigste, in dem ein Mann einem anderen die Untreue von dessen Frau vorgaukelt, um eine Wette zu gewinnen, aber später selbst von der Frau überlistet wird, im Ablauf ziemlich genau der Geschichte des Bernabò von Genua aus Boccaccios Decamerone und macht damit deutlich, dass vermeintliche „Volksmärchen“ vom Kunstmärchen gar nicht klar zu trennen sind, sondern immer wechselseitige Einflüsse bestehen.
Knappe biographische Informationen zu Johann Wilhelm Wolf und ein Auszug aus dessen Kindheitserinnerungen runden den äußerlich sehr hübsch gestalteten Band ab, der nicht nur als Blick auf Märchen abseits der quasi kanonischen Grimm’schen dienen kann, sondern auch als Schmuckstück für alle, die Freude an der schönen Aufmachung von Büchern haben.
Christian Döring (Hrsg.): Verschollene Märchen. Gesammelt von Johann Wilhelm Wolf in Manier der Brüder Grimm. 2. Aufl. Berlin, Die Andere Bibliothek, 2017, 348 Seiten.
ISBN: 978-3-8477-4032-2