Aufgrund seines riskanten Vorgehens im Kampf gegen die Drogenkriminalität ist Armand Gamache degradiert worden und arbeitet nun wieder bei der Mordkommission. Für Vermisstenfälle ist er eigentlich gar nicht zuständig, aber mit einem ganz speziellen befasst er sich dennoch, da es um eine gute Bekannte der Polizistin Lysette Cloutier geht: Die junge Vivienne ist verschwunden, und es steht zu befürchten, dass ihr gewalttätiger Mann sie umgebracht hat. Die Suche wird davon erschwert, dass eine Flutkatastrophe den gesamten kanadischen Osten bedroht. Ausgerechnet im kleinen Fluss Bella Bella, der in Gamaches Wohnort Three Pines demnächst über die Ufer treten könnte, wird dann auch tatsächlich Viviennes Leiche gefunden. Eigentlich wirkt offensichtlich, was passiert ist, aber es kommt zu Ermittlungspannen, und bald muss Gamache sich auch noch mit harscher Kritik in den sozialen Medien herumschlagen. Als wäre das nicht schon schlimm genug, steht nach einer Weile eine ganz andere Frage im Raum: Kann er sich dieses Mal wirklich auf alle Mitglieder seines Teams verlassen, oder hat nicht vielleicht jemand etwas Entscheidendes zu verbergen?
Wilde Wasser, der fünfzehnte Band von Louise Pennys Reihe um Armand Gamache, ist gewohnt spannend geschrieben, aber im Grundton noch ein gutes Stück düsterer als bisher. Mit häuslicher Gewalt insbesondere gegen Frauen und dem Schaden, den Influencer und Social-Media-Kampagnen anrichten können (wobei dem überbordenden Onlinehass nicht allein Gamache, sondern in einem anderen Kontext als er auch seine Bekannte, die Künstlerin Clara Morrow, ausgesetzt ist), stehen zwei sehr traurige Themen im Mittelpunkt, und ergänzt um die in der Serie ohnehin mal mehr, mal minder präsente Drogenproblematik, neuerliche Polizeiintrigen gegen den gebeutelten Protagonisten, die Bedrohung durch die Flut und die Tatsache, dass Gamaches Schwiegersohn und alter Weggefährte Jean-Guy Beauvoir nicht nur den Polizeidienst, sondern auch noch gleich das Land zu verlassen gedenkt, gibt es hier nicht viele Lichtblicke.
Ein Hauch von Humor ist zwar auch in Wilde Wasser vorhanden, aber viele der Gags sind aus den bisherigen Bänden der Reihe aufgewärmt (etwa der, dass die Ente Rosa schneller als ihre Besitzerin, die alte Dichterin Ruth Zardo, zu bemerken pflegt, ob sie Alkohol zu trinken bekommen oder nicht), und das witzige Geplänkel der Dorfbewohner, das sonst oft die Atmosphäre trägt, nimmt insgesamt nur wenig Raum ein. Auch fragt man sich, warum Gamache im Zuge der Flutkatastrophe wieder einmal halb Kanada retten muss, obwohl er auf seinem neuen alten Posten bei der Mordkommission dafür eigentlich nicht zuständig sein sollte. Hier drängt sich doch der Verdacht auf, dass Louise Penny, weil in früheren Bänden teilweise so viel auf dem Spiel stand, unbedingt wieder einmal eine gewaltige Bedrohung von nationaler Tragweite heraufbeschwören muss, obwohl sie auf einem anderen Gebiet viel besser ist.
Denn der eigentliche Fall und die Entwicklungen innerhalb des Ermittlerteams zeigen, dass Pennys Stärke neben dem viel zu kurz kommenden Humor darin liegt, komplexe Figuren zu entwickeln und die Schwierigkeiten, ja Abgründe zwischenmenschlicher Beziehungen auszuloten. Der sozialkritische Aspekt, der ohnehin oft bei ihr mitschwingt, ist hier besonders prononciert, und nicht zum ersten Mal in der Serie geht es darum, dass auch die Polizei fehlbar ist, in ihren Ermittlungshypothesen ebenso wie in ihrem Verhalten abseits des Diensts.
Insgesamt ist Wilde Wasser (übrigens ein Titel, der, wenn man die noch nicht angepasste Danksagung zugrundelegt, auf Deutsch wohl zunächst Frühlingsfluten lauten sollte) also recht deprimierend, aber kein schlechter Roman. Wer an den Krimis aus Three Pines die gemütlichen Stunden im Bistro, die menschliche Wärme, den Witz und den Blick zurück in die Geschichte schätzt, bekommt hier allerdings weit weniger von dem, was er mag, als in den früheren Bänden.
Louise Penny: Wilde Wasser. Der 15. Fall für Gamache. Zürich, Kampa, 2022, 544 Seiten.
ISBN: 978-3-311-12034-6