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Die Etrusker

Jahrhundertelang waren die Etrusker der bestimmende politische Faktor in Mittelitalien und als Seemacht überregional bedeutend. Doch im Vergleich zu anderen bekannten Völkern der Antike blieb über sie nur eine äußerst schmale Quellenbasis erhalten: Ihre eigene Literatur einschließlich der Geschichtsschreibung ist verloren, ihre Sprache aufgrund des überwiegend auf knappe Inschriften beschränkten Textkorpus nur rudimentär zu entschlüsseln. Da Holz oder Textilien nur selten die Jahrtausende überdauern, sind auch weite Teile ihrer materiellen Kultur unwiederbringlich vergangen. Was bleibt, ist eine Fülle von Kunstwerken, von den berühmten Wandmalereien in den reich ausgestatteten Gräbern der Oberschicht über Statuen, Sarkophage und Urnen bis hin zu persönlichen Gegenständen wie Schmuck oder Spiegeln.
Folgerichtig lebt der opulente Bildband Die Etrusker auch vor allem von hervorragenden Aufnahmen dieser Schätze, ergänzt um Kartenmaterial, Abbildungen erhaltener Baudenkmäler und einzelne Landschaftsfotos aus Etrurien.
Wenn auch zuerst vor allem die Bilder beeindrucken, erweist sich der zugehörige Text als äußerst kenntnisreich und informativ. Friederike Bubenheimer-Erhart fährt zweigleisig, um ihren Lesern die Rasna – so die Eigenbezeichnung der Etrusker – näherzubringen. Grundgerüst ist eine chronologische Darstellung der etruskischen Geschichte von ihren Anfängen in der sogenannten Villanova-Kultur (9.-8. Jh. v. Chr.) über die Blütephase in archaischer und klassischer Antike bis hin zum Niedergang und zur im 1. Jh. v. Chr. abgeschlossenen Eingliederung ins römische Reich. Parallel dazu werden in Sonderseiten und Steckbriefen zeitlich übergreifende Themen (so etwa Religion, Kunsthandwerk oder Seefahrt) und interessante Persönlichkeiten noch einmal einzeln vorgestellt. Diese Aufteilung erhöht die Übersichtlichkeit und erleichtert es, spezielle Informationen gezielt zu finden. Bei einer durchgängigen Lektüre des Buchs ergeben sich jedoch einige Wiederholungen, da mehrere Passagen fast identisch (oder leicht paraphrasiert) im Fließtext und in den eingeschobenen Zusatzkapiteln erscheinen.
Insgesamt beeindruckt die Darstellung durch eine fundierte Einbeziehung des historischen und kulturellen Kontexts. Die Etrusker werden nicht etwa größtenteils isoliert in den Blick genommen, sondern immer wieder auch in ihrem Wechselspiel mit Griechen, Phöniziern, Römern und anderen Völkern gesehen, das sich nicht auf die politische und wirtschaftliche Ebene beschränkte, sondern auch zu handwerklichem und künstlerischem Austausch sowie zu synkretistischen Erscheinungen in der Religion führte.
Wie sehr (und vor allem wie lange) gerade diese nach der Assimilation der Etrusker im römischen Reich noch weiterzuwirken vermochte, verrät der Umstand, dass selbst der natürlich einem ganz anderen Glauben anhängende Papst Innozenz I. im Vorfeld der Eroberung Roms durch die Goten 410 einen nach etruskischem Muster arbeitenden Haruspex (Eingeweidebeschauer) konsultiert haben soll. Nach der Wiederentdeckung der Etrusker in der Renaissance dagegen war es vor allem ihre lebensvolle Kunst, die in vielfältiger Weise rezipiert wurde und ihnen auf diese Weise lange nach ihrem Verschwinden als ethnische und sprachliche Gemeinschaft ein Weiterwirken sicherte.
Dafür hat man schon nach einem flüchtigen Durchblättern des Buchs größtes Verständnis, denn so spannend sich Kultur- und Ereignisgeschichte der Etrusker zweifelsohne lesen, der ästhetische Reiz der Bilder bleibt unübertroffen.

Friederike Bubenheimer-Erhart: Die Etrusker. Darmstadt, Philipp von Zabern (WBG), 2014, 191 Seiten.
ISBN: 978-3805348058


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Die Katze, die kam, um zu bleiben

Die Auseinandersetzung von Katzenbesitzern mit den Eigenheiten und Abenteuern ihrer Stubentiger ist ein Dauerbrenner, davon legen nicht nur die zahllosen privaten Katzenvideos und -fotos, die im Internet allgegenwärtig sind, beredt Zeugnis ab. Auch künstlerisch und literarisch werden solche Erlebnisse vielfach aufgearbeitet, sei es in witzig verfremdeter Comic- und Zeichentrickform wie bei Simon’s Cat oder als autobiographischer Erfahrungsbericht wie in den populären Büchern um Bob, den Streuner.
Nils Uddenbergs Katze, die kam, um zu bleiben fällt eindeutig in letztere Kategorie und scheint auf den ersten Blick ein Paradebeispiel einer persönlich gefärbten und eher unspektakulären Katzengeschichte zu sein: Der alternde Psychiater Uddenberg hat seit seiner Kindheit keine Tiere mehr gehalten, und seine Frau und er sind auch nicht erpicht darauf, etwas daran zu ändern – einen zu hohen Stellenwert genießen für sie gemeinsame Reisen, denen ein nichtmenschlicher Hausgenosse nur im Wege stünde. Als sich dann aber im Gartenschuppen eine streunende Katze ansiedelt, die offensichtlich nicht so rasch wieder zu verschwinden gedenkt, ergibt sich eine schleichende Veränderung, die von Fütterungen aus Mitleid über erste Hausbesuche der Katze schließlich doch noch zu deren Einzug und Einbindung ins Familienleben führt, mit allen rührenden und amüsanten Elementen, die solch ein Freundschaftschließen mit sich bringt. In diesen Schilderungen findet sich viel Altbekanntes und Vorhersehbares, darunter Beispiele typischen Katzenverhaltens ebenso wie der unausweichliche Vergleich mit Hunden. Zweierlei unterscheidet Uddenbergs Ansatz jedoch von vielen ähnlich gearteten Werken.
Zum einen ist dies sein – vielleicht berufsbedingt – sehr reflektierter und hinterfragender Umgang mit seiner eigenen Sicht auf die Katze und ihr Tun. Uddenberg ist sich im Klaren darüber, dass manche Interpretation weit mehr über den Beobachter als über das Tier selbst aussagt, gesteht jedoch sympathischerweise ein, dennoch nicht umhinzukönnen, gewisse Vermenschlichungen vorzunehmen.
Zum anderen aber ist sein Buch ein vielfach mit diesen Gedanken über Nähe und Distanz verwobener Spaziergang durch die Kulturgeschichte der Beziehungen zwischen Katze und Mensch, von der Domestikation über Deutungen in Religion und Heraldik bis hin zu literarischen Annäherungen von so unterschiedlichen Autoren wie Doris Lessing oder T. S. Eliot. Verständlicherweise bleiben diese Betrachtungen mehr oder minder an der Oberfläche, ebenso wie die eingestreuten Bemerkungen zu wilden Katzen aller Art, sei es nun der aus Uddenbergs Sicht überschätzte Löwen oder die weit unbekanntere südafrikanische Schwarzfußkatze. Typisches Sachbuchwissen soll damit wohl auch gar nicht vermittelt werden, sondern eher die assoziationsreiche Gedankenfülle eines gebildeten Katzenliebhabers, der zu viel Vorwissen für einen völlig unbefangenen oder gar unbedarften Umgang mit seinem Haustier mitbringt. Viele der beinahe dahingeplauderten Details machen jedenfalls neugierig und regen dazu an, selbst mehr in Erfahrung zu bringen.
Die Grundstimmung bleibt jedoch durchgängig charmant und liebenswert, wozu auch die netten Illustrationen von von Ane Gustavsson beitragen (ob man dabei die tote Maus auf S. 127 zu seinem Glück braucht, ist wohl Geschmackssache, aber natürlich gehört auch sie zum Katzenleben). Einziger Wermutstropfen ist ein sprachliches Holpern hier und da (z.B. die mangelnde Unterscheidung zwischen „anscheinend“ und „scheinbar“). Wer noch ein bisschen entspannende Ferienlektüre für den Sommerurlaub sucht, könnte also eine schlechtere Wahl treffen, als Die Katze, die kam, um zu bleiben dem Reisegepäck hinzuzufügen.

Nils Uddenberg: Die Katze, die kam, um zu bleiben. München, btb, 2015, 190 Seiten.
ISBN: 978-3442749171


Genre: Kunst und Kultur

Ostende 1936 – Sommer der Freundschaft

Judenverfolgung, Bücherverbrennungen und Berufsverbote zwangen in der Nazizeit manch einen deutschen oder österreichischen Schriftsteller, ins Ausland zu fliehen und sich dort auf eine ungewisse Zukunft einzulassen, die nicht immer eine Fortsetzung der bisherigen Karriere zuließ: Eingeschränkte Veröffentlichungsmöglichkeiten, finanzielle Schwierigkeiten und nicht zuletzt das psychische Leid unter der Situation machten vielen schwer zu schaffen.
Als einen Kristallisationspunkt dieses Literatenexils hat Volker Weidermann das belgische Ostende ausgemacht, wo im Sommer 1936 Intellektuelle, politische Agitatoren und Künstler zusammenkamen und einen scheinbar idyllischen Sommerurlaub verbrachten. Weidermann komponiert aus diesen Sachinformationen (bei denen man gerade bei den zahlreichen Zitaten aus den Werken seiner Protagonisten das Fehlen eines Quellenverzeichnisses sehr bedauert) einen fast essayistisch anmutenden Bilderbogen, in dessen Zentrum die ungleichen Freunde Stefan Zweig und Joseph Roth stehen. Die Herkunft aus dem einstigen Habsburgerreich, den jüdischen Glauben und den Schriftstellerberuf haben beide miteinander gemein, doch sonst scheint es wenig zu geben, was den wohlhabenden, idealistischen Zweig und den von Geldnöten ebenso wie von seiner Trunksucht und einer Neigung zu zerstörerischen Liebesbeziehungen geplagten Roth verbindet. Um ihre schwierige und letztlich zum Scheitern verdammte Freundschaft herum entspinnt sich ein bunter Reigen: Badevergnügen, Treffen in Cafés und Hotels, kreativer Austausch und Liebeserwachen bestimmen das Bild des im Untertitel heraufbeschworenen Sommers der Freundschaft.
Doch unter dieser angenehmen Oberfläche schwingt stets eine der spezifischen Situation der geflohenen Künstler geschuldete Weltuntergangsstimmung mit, die nicht nur in der Tatsache ihren Ausdruck findet, dass die literarische Würdigung, die Ostende selbst durch einen der Exilschriftsteller, Hermann Kesten, erfährt, eine düstere Geschichte um Vergewaltigung, Mord und Justizirrtum ist.
Geradezu leitmotivisch taucht im Hintergrund auch immer wieder James Ensor auf, der Stefan Zweig von seinem ersten Ostende-Aufenthalt vor dem Ersten Weltkrieg an faszinierte, und es mutet wie finstere Ironie an, dass es inmitten all der Heimatlosen ausgerechnet dem an verstörenden, häufig auf den Tod anspielenden Motiven interessierten Maler bestimmt ist, samt seinem makaber dekorierten Haus alle Fährnisse und Kriegszerstörungen unbeschadet zu überstehen und in hohem Alter geachtet in seiner Geburtsstadt zu sterben.
So viel Glück ist den meisten der Entwurzelten nicht beschieden, und man kann nur bedauern, wie viele der hier angerissenen Biographien im Selbstmord endeten. Prominentestes Beispiel ist auch hier wieder Stefan Zweig, der sich 1942 in Brasilien das Leben nahm, obwohl es ihm anders als vielen der Übrigen zumindest materiell bis zuletzt an nichts mangelte. Gerade sein Schicksal zeigt, in welchem Maße das Exil nicht nur eine Entfernung aus der geographischen, sondern vor allem auch einen Verlust der geistigen Heimat bedeutete, jenes alten Europa, das schon der Erste Weltkrieg in seinen Grundfesten erschüttert hatte. Dass Schattenseiten dieser früheren Epoche hier größtenteils unerwähnt bleiben, ist angesichts der Konzentration auf die Perspektive der Leidtragenden der großen Veränderungen nur zu verständlich.
Auf jeden Fall wird in Weidermanns Schilderung überdeutlich, dass die Verwerfungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neben unzähligen Verlusten an Menschenleben und millionenfachem Elend auch einen tiefgreifenden kulturellen Wandel mit sich brachten und ein Anknüpfen an alte Kontinuitäten in der Nachkriegszeit oft unmöglich war. Angesichts der in jüngster Zeit wieder zu beobachtenden Radikalisierung verschiedener politischer Tendenzen lässt Ostende 1936 – Sommer der Freundschaft sich also auch als Mahnung lesen, zu bedenken, dass dumpfe Ideologien nicht erst dann Schaden anrichten, wenn Menschen physisch bedroht sind: Ihre Auswirkungen auf Kunst und Kultur können bereits vor den schlimmsten Gewaltexzessen verheerend sein.
So legt man das Buch nicht nur beeindruckt von seiner stilistischen Schönheit und gekonnten Zuspitzung, sondern auch betroffen über seinen Inhalt und dessen Aktualität aus der Hand.

Volker Weidermann: Ostende 1936 – Sommer der Freundschaft. Kiepenheuer & Witsch, 10. Aufl. 2014, 157 Seiten.
ISBN: 978-3462046007


Genre: Kunst und Kultur

Pompeji. Götter, Mythen, Menschen

Die Ausstellungskataloge des Bucerius Kunst Forums bieten in aller Regel vorzügliche Bilder und Texte, und auch Pompeji. Götter, Mythen, Menschen, der Begleitband zur aktuellen Pompeji-Ausstellung, bildet da keine Ausnahme.
In eine Aufsatzsammlung und einen Katalogteil gegliedert, erlaubt er am Beispiel der sogenannten Casa del Citarista („Haus des Kitharaspielers“), eines der prächtigsten Häuser der Stadt, einen faszinierenden Einblick in die pompejanische Kunst und ihre Rolle im Rahmen von Wohnkultur und Repräsentation.
Von den Ausgräbern nach einer Bronzestatue des Apoll als Kitharaspieler (Kat.-Nr. 52) benannt, wurde die Casa del Citarista von ca. 300 v.Chr. an mit zahlreichen Umbauten und Erweiterungen bis zum fatalen Vesuvausbruch 79 n.Chr. kontinuierlich genutzt. Um mehrere Atrien und Peristylien mit reichem Relief- und Statuenschmuck gruppiert sich eine Fülle von Räumen mit erlesenen, heute im Archäologischen Nationalmuseum Neapel verwahrten Wandmalereien, die vor allem mythologische Szenen zeigen.
Eine Einordnung ihres Bildprogramms und ihrer stilistischen Eigenheiten in einen größeren Kontext erlaubt der Vergleich mit einer repräsentativen Auswahl anderer Gemälde, die in der Ausstellung getrennt von der als Ensemble präsentierten Casa del Citarista gezeigt werden und so folgerichtig ihren eigenen Katalogteil bekommen, der die Entwicklung der pompejanischen Malerei nachzeichnet: Wird im Ersten Stil oder „Mauerwerkstil“ (ca. 2. Jh. v. Chr. bis 80 v. Chr.) noch versucht, Marmor und andere hochwertige Baustoffe zu imitieren, zeigt der Zweite Stil oder „Architekturstil“ (ab ca. 100 v. Chr.) perspektivisch fiktive Architektur. Die meisten Kunstwerke aus der Casa del Citarista sind jedoch den beiden folgenden Stilepochen zuzuordnen: Der Dritte Stil (ca. 40 v. Chr. bis 50 n. Chr.) zeichnet sich durch eine ornamentalere und zierlichere, die Wand mit Architekturdetails und dekorativen Figuren gliedernde Herangehensweise aus und führt mythologische Szenen als zentrales Bildfeld ein. Der Vierte Stil (ab ca. 40 n. Chr.) schließlich ist überbordender als seine Vorgänger, deren Elemente er vielfach farbenprächtig kombiniert und steigert.
Trotz ihrer hauptsächlichen Funktion als Beispiele für diese Stilrichtungen werden die Kunstwerke jeweils individuell gewürdigt. Ähnlich liebevoll sind auch die Ausstellungsstücke aus der Casa del Citarista besprochen, von den monumentalen Wandgemälden über Portraitbüsten und Tierstatuen bis hin zu Kleinfunden wie Schmuckstücken oder Möbelfüßen. Hervorzuheben sind die gute Qualität und betrachterfreundliche Größe der Fotos, die diese Texte begleiten: Hier lässt sich wirklich jede Einzelheit gut erkennen, wenn man nicht ganz einfach nur im Kunstgenuss schwelgen und die zarte Farbenpracht der Malereien und den Einfallsreichtum der Künstler genießen möchte.
Weniger einheitlich als der Katalogteil wirkt die vorausgehende Aufsatzsammlung, die u.a. mit Kartenmaterial und Fotos aus Pompeji ebenfalls schön illustriert ist und nicht nur die Geschichte der Stadt von ihrer Gründung um 600 v. Chr. an schildert, sondern auch auf ihre Ausgrabung und Erforschung ab dem 18. Jahrhundert eingeht und ausführlich die Casa del Citarista unter verschiedenen Aspekten vorstellt. Letzteres geschieht zum Teil mit kreativen Ansätzen: So geht etwa Andrew Wallace-Hadrill in seinem Beitrag über Das Leben in der Casa del Citarista von Robert Harris‘ 2003 erschienenem Roman Pompeji aus, dessen Realismus er unterhaltsam auf den Prüfstand stellt.
Da jeder Verfasser seine eigenen Schwerpunkte setzt, lässt sich eine gewisse Heterogenität nicht leugnen, aus der sich natürlich auch ergibt, dass bei einer Lektüre des kompletten Buchs der rote Faden fehlt und sich manches wiederholt oder aber widerspricht. Den wissenschaftlich Interessierten dürfte das weniger stören als den Gelegenheitsleser, der sich vielleicht über ein klareres (damit aber auch geschöntes) Gesamtbild freuen würde.
Jeweils für sich genommen sind jedoch sowohl die Aufsätze als auch die Katalogtexte gelungen, informativ und angenehm zu lesen. Letzteres ist auch der Tatsache zu verdanken, dass hier erfreulicherweise komplett auf den Katastrophenvoyeurismus verzichtet wird, in den Publikationen über Pompeji sonst bisweilen abgleiten. Das Schreckliche wird nicht ausgeblendet – so deuten z.B. Skelettfunde darauf hin, dass auch Bewohner der Casa del Citarista dem Unglück zum Opfer fielen -, aber stets sachlich abgehandelt. Im Mittelpunkt stehen eindeutig Kunst und Lebenswelt der Pompejaner, nicht ihr Untergang.
Einzig daran, ob man exzellenten Kunsthistorikern auch in biologischen Fragen vorbehaltlos trauen sollte, weckt der Katalog dann doch leise Zweifel: Es mag noch Ansischtssache sein, ob unter den pauschal als „Störchen“ klassifizierten Vögeln in einer Gartenszene (Kat.-Nr. 72) nicht auch ein Reiher und ein Kranich sind, aber bei der bronzenen „Hirschkuh“ (Kat.-Nr. 9) mit prächtigem Geweih dürfte es sich doch eher um ein männliches Tier handeln (es sei denn, wir haben es mit dem Rentier von Pompeji zu tun).
Abgesehen davon aber ist dieser schöne Band rundum empfehlenswert und sei nicht nur allen Römerfans ans Herz gelegt.

Übrigens: Wer bis zum 11.1.15 noch Gelegenheit hat, sich die zugehörige Ausstellung in Hamburg anzusehen, sollte die Chance unbedingt nutzen!

Andreas Hoffmann, Michael Philipp, Ortrud Westheider (Hrsg.): Pompeji. Götter, Mythen, Menschen. Hirmer, 2014, 240 Seiten.
ISBN: 978-3777423005


Genre: Kunst und Kultur

Auf der Spur des Papiers. Eine Liebeserklärung

Ein neuer Buchblog sollte mit der Rezension eines besonders schönen Buchs beginnen – und das ist Erik Orsennas Auf der Spur des Papiers. Eine Liebeserklärung äußerlich wie inhaltlich ohne Zweifel.
Die leicht raue Struktur des Schutzumschlags (der einen Ausschnitt des hübschen Titelmotivs klug abgewandelt auf dem Buchrücken wiederaufgreift), die von der glatten Oberfläche der meisten Bücher abweicht, weckt schon Interesse, ohne dass man auch nur eine Seite gelesen hätte, und bevor man dazu kommt, kann man bereits über die gelungene Innengestaltung staunen, die in farblich abgesetzten Unterüberschriften, Kästen und Fußnoten den sanften Grünton aus dem Titelbild wiederkehren lässt.
Doch genug geschwärmt – schließlich kommt es vor allem auf den Inhalt an, und der bezaubert einen in diesem Fall genauso sehr wie das anmutige Äußere. In einem historischen und einem der Gegenwart gewidmeten Teil nähert Erik Orsenna sich dem Phänomen Papier, indem er kurze Skizzen seiner Besuche an Orten und bei Menschen aneinanderreiht, die alle in irgendeiner Form mit dem so vielseitigen Werkstoff in Verbindung stehen. Ob in seinem heimatlichen Frankreich oder auf Reisen in Kanada, Russland, Japan, Brasilien und weiteren Ländern, Orsenna spürt die spannendsten Museen, Fabriken und Holzplantagen auf und weiß sie ebenso eindringlich und charmant zu schildern wie die Fülle von Gesprächspartnern, mit deren Hilfe er sich seinem Gegenstand nähert.
So begleitet man das Papier von seinen sagenumwobenen Ursprüngen in China über seine teils begeisterte, teils zögerliche Übernahme durch andere Kulturen und die Umstellung von der Gewinnung aus Textilien auf den Rohstoff Holz bis in die Neuzeit, in der seine industrielle Produktion mancherorts zum Umweltproblem wird, während anderswo noch Handwerker die Kunst seiner traditionellen Herstellung beherrschen.
Apropos Kunst: Wie sehr Papier die menschliche Kreativität inspiriert, zeigt Orsenna nicht nur am Beispiel von Literatur oder Origami, sondern auch, indem er immer wieder Erfindungen und technische Fortschritte in den Mittelpunkt stellt, die ohne Papier nicht möglich gewesen wären, das auch zum Gelingen des ersten Flugs mit einem Heißluftballon beitrug. Damit nicht genug der Überraschungen: Wer rechnet schon damit, dass eine eingehende Beschäftigung mit der Toilettepapierproduktion (einschließlich entsprechender Rabelais-Zitate) von beträchtlichem literarischen Wert sein kann oder dass eine lange Auflistung von Papiernormen und -namen des 18. Jahrhunderts anregenden Lesestoff bietet?
Natürlich geht dieses bunte Kaleidoskop ein wenig zulasten des Tiefgangs. Die zahlreichen Vignetten sind liebenswert und gefällig, wollen und können aber kein Ersatz für ein Fachbuch zum jeweiligen Thema sein (auf entsprechende vertiefende Lektüre weist allerdings die kleine Bibliographie am Ende des Werks hin). Viel Lust, sich noch eingehender mit dem ein oder anderen angerissenen Gebiet zu befassen, macht einem Auf der Spur des Papiers auf jeden Fall. Ohnehin ist der konkrete Informationsgehalt vielleicht gar nicht einmal das Wichtigste: Vor allem sollte man sich auf den in bester französischer Tradition elegant formulierten und vor Esprit sprühenden literarischen Spaziergang einlassen, auf den Erik Orsenna einen mitnimmt. Man wird es nicht bereuen.

Erik Orsenna: Auf der Spur des Papiers. Eine Liebeserklärung. C.H. Beck, 2014, 336 Seiten.
ISBN: 978-3406660931


Genre: Kunst und Kultur