Lesestoff: Frühstück im Freien

Nach zwei eher ernsten Lesestoff-Beiträgen wird es höchste Zeit, dass auch einmal wieder etwas Lustiges passiert, nicht wahr?

Der heutige Textausschnitt stammt aus meinem Roman Rattenlied und zeigt, dass ein Frühstück im Freien deutlich interessanter wird, wenn man dabei die lokale Fauna aus nächster Nähe beobachten kann. Zumindest finden das Lucardis, die Schwertmeisterin auf dem Schwanenhof, und Alfreda alias Ratte, einer Söldnerin, die nicht ganz freiwillig dort zu Gast ist. Also auf zu Tee, Haferbrei und Steppengreifen!

Frühstück im Freien
Rattenlied (S. 109-112)

»Ihr denkt zu laut«, sagte die Schwertmeisterin nun, bevor sie mit sichtlichem Behagen ihren Löffel ableckte.

»So?«, entgegnete Alfreda ein weiteres Mal und ließ zu, dass das Lächeln, das den Weg auf ihre Lippen suchte, auch tatsächlich sichtbar wurde.

»Ja.« Lucardis hielt kurz inne, um ihnen beiden Tee nachzuschenken. »Das tut Ihr, schon seit gestern. Und sehr ausdauernd, obwohl Ihr das nicht gern hören werdet.«

Da hatte sie Recht. Alfreda überlegte schweigend. Vor ihr saß die Tochter des hiesigen Magus, und wenn er auch nur ein einfacher Landzauberer war, der gewiss nichts tat, als mit wechselndem Erfolg Schädlinge von den Feldern fernzuhalten und lahme Pferde zu besprechen, konnte sie doch mit Gespenstern reden. Vielleicht durfte man sie also nicht unterschätzen. »Ihr macht mich neugierig, Frau Lucardis. Was denke ich derart laut?«

»Dass es höchst albern von mir ist, so mit Euch zu reden, und dass Ihr es ohnehin nicht verdient habt, hier zwischen Narren und Bauerntölpeln festzusitzen, da Ihr doch eigentlich Besseres zu tun habt.«

Alfreda wurde einer Antwort enthoben, da im selben Augenblick Flügel über sie hinwegrauschten und ein Greif, der größer als jeder andere war, den sie bisher gesehen hatte, auf dem linken Knie der Schwertmeisterin landete, um sich höchst neugierig über die Breischüssel zu beugen.

»Gefräßiges Biest«, begrüßte ihn Lucardis nicht ohne eine gewisse Zuneigung, packte ihn dennoch im Nackengefieder und setzte ihn auf den Boden, was ihr nicht weiterhalf, da sich gleichzeitig ein zweiter Greif, der kleiner als der erste wirkte, auf ihrem rechten Bein niederließ und ebenfalls den Schnabel nach der verlockenden Speise reckte. Ihre Bemühungen, auch dieses Tier von den Resten ihres Frühstücks fernzuhalten, verschafften dem ersten die nötige Zeit, wieder heraufzuklettern. Alfreda beschloss, dass es nicht schaden konnte, hilfsbereit zu wirken, und griff beherzt zu.

Der Greif schien an Menschenhände gewöhnt zu sein; nach einem ersten empörten Flattern und Fauchen hielt er still und sah sie nur sehr strafend an, während sein Schwanz mit der prächtigen Quaste zuckte.

Alfreda erwiderte seinen Blick. »Du bist nicht so winzig wie deinesgleichen in der Halle. Kommt das vom Haferbrei?«

»Die beiden sind Steppengreifen«, erklärte Lucardis, während sie rasch mit der freien Hand die Schüssel in Sicherheit brachte. »Und der hier weiß ganz genau, dass ich ihm Schinken versprochen habe, den er nie bekommen hat.«

»Wenn der Brei ihm als Entschädigung reicht, kommt Ihr billiger davon«, gab Alfreda zu bedenken und unterband einen Fluchtversuch des Greifen, der wohl nur so friedlich getan hatte, um zu warten, bis sie abgelenkt war. »Nein, du bleibst hier, mein Lieber.«

»Oh, der, den Ihr da habt, ist ein Weibchen, die Schwester dieses Kleinen hier.«

Die Greifin zeterte, als sei es ihr herzlich gleichgültig, wofür man sie hielt, aber nicht, dass ihr die Freiheit und der begehrte Brei verwehrt wurden.

»Geben sie denn Ruhe, wenn wir sie auf das Essen loslassen?« Alfreda hielt eine krallenbewehrte Pfote mit Mühe davon ab, sich in das Hemd zu graben, das ihr nicht gehörte.

Lucardis setzte zu einer Antwort an, hielt dann aber inne, als sie bemerkte, dass die Tür einer der bescheidenen Behausungen entlang des Walls aufschwang und eine verschlafene, erst halb bekleidete Gestalt mit einem Eimer ins Freie getappt kam, augenscheinlich auf dem Weg zum Brunnen an der Gartenecke.

Was Lucardis dem Mann in einer fremden Sprache zurief, wusste Alfreda nicht, aber der Tonfall war auch ohne Kenntnis der einzelnen Wörter unmissverständlich: Du bist zuständig, also unternimm gefälligst auf der Stelle etwas, sonst bekommst du es mit mir zu tun.

In etwa das schien auch bei dem Bedauernswerten, dem die Aufforderung galt, anzukommen, denn er ließ den Eimer stehen und beeilte sich, zur Gartenmauer zu gelangen. Als er näher heran war, erkannte Alfreda in ihm den blonden Bogenschützen vom Vortag, der so zerzaust und frisch aus dem Bett gekrochen weit weniger eindrucksvoll wirkte. Dass er dafür verantwortlich war, Greifen
vom Verzehr fremden Haferbreis abzuhalten, ließ sich nicht nur an seiner halbwegs schuldbewussten Miene ablesen; auch die Tätowierung, die sich pechschwarz von seiner Brust über die linke Schulter zog, zeigte die Hinterbeine eines Greifen, dessen Schwanz sich lustig ringelte. Der Kopf musste wohl mitsamt allem, was vor den Flügelspitzen lag, auf dem Rücken des Mannes Wache halten.

Die Steppengreifen begrüßten den Bogenschützen mit eifrigem Zwitschern und machten es sich auf seinen Armen wie Kätzchen bequem, sobald er sie den beiden Frauen abgenommen hatte. Er neigte leicht den Kopf und sagte dann langsam wie jemand, der eine Sprache erst spät gelernt hatte und gut nachdenken musste, um die richtigen Worte zu wählen: »Entschuldigt. Sie sind immer hungrig.«

Als er sich auf Lucardis’ Nicken hin entfernte, war zu sehen, dass der schwarze Greifenkopf, der in seinen Rücken gestochen war, lächelte, während ein echter oberhalb davon sehr sehnsüchtig über die Schulter seines Herrn hinweg zu dem entgangenen Brei zurückschaute.

Alfreda schmunzelte darüber, ließ den Blick dann wohlgefällig tiefer gleiten und bemerkte: »Endlich einmal einer, bei dem es sich auch lohnt, wenn er das Hemd auszieht.«