Den letzten Mittwochslesestoff hat es hier im Blog vor über einem Jahr gegeben – höchste Zeit also, die Tradition wieder aufleben zu lassen! Diesmal ist es ein Ausschnitt aus meinem Roman Der Ringeltaubenmantel (S. 108-110). Faustina, eine junge Kerzenzieherin aus Aquae Calicis, will eigentlich nur ihre Großmutter besuchen, aber das gestaltet sich abenteuerlicher als erwartet.
Strandgut
Im Frühjahr nach dem Krieg kam Faustina im Laufe einer Woche zu einem Zaubermantel, einer besten Freundin und einem Mann, wenn auch nicht genau in dieser Reihenfolge. Als sie in dem kalten März in das Dorf bei Castra Nova in der Seemark hinaufreiste, um nach ihrer Großmutter väterlicherseits zu sehen, ahnte sie davon allerdings noch nichts. Die alte Frau hatte sich in ihrem letzten Brief im Spätsommer geweigert, ins sichere Aquae Calicis zu kommen, und danach war die Verbindung über Monate abgerissen. Faustinas Vater hatte selbst zu seiner Mutter reisen wollen, sobald es wieder leidlich ungefährlich war, doch über den Winter hatte ihn eine rätselhafte Krankheit niedergeworfen und war ihm auf die Lunge geschlagen. Aber es hieß, dass man sich wieder aus dem Schutz der Mauern hervorwagen konnte, und so war es Faustina, die loszog, um zu sehen, ob die sture Gotelind noch lebte oder nicht.
Das erste Stück fuhr sie auf einem Flussschiff mit, das den rötlichen Sandstein von Mons Arbuini geladen hatte, aber den Rest der Strecke musste sie zu Fuß bewältigen, und im Märzregen war es ein unersprießlicher, entsetzlich langer Marsch über aufgeweichte Straßen, auf denen ihr zu oft Reisende oder Flüchtlinge begegneten, in deren Augen Angst und Misstrauen standen. Ganz zum Schluss stürmte es dann auch noch, und sie war durchnässt und hielt sich nur noch mit Mühe auf den Beinen, als sie spät abends endlich an Gotelinds Tür klopfte.
Eine Senke nicht weit landeinwärts von den Dünen, ein enges Haus mit tief herabgezogenem Reetdach, ein mit eingeschnittenen Runen und Muschelamuletten gesicherter Zaun, der Unholde aus der Geisterwelt zuverlässiger abhielt als die Diebe aus Fleisch und Blut, die sich in Sommer und Herbst gelegentlich an den Früchten des bescheidenen Gartens vergriffen – das war Gotelinds Bleibe, und zum Glück war auch sie selbst noch da und ließ ihre Enkelin ein.
»Ich habe gewusst, dass du kommen würdest«, sagte sie zum Gruß, und da sie als Zauberin so manches vorausahnte, war das kein Ausdruck unverbrüchlichen Vertrauens, sondern eine schlichte Feststellung.
»Weißt du dann auch, dass es deinem Sohn nicht gut geht?«, gab Faustina mit leisem Ärger zurück, dass ihr nach all den Anstrengungen kein überschwänglicherer Empfang geboten wurde.
Gotelind zuckte in aller Seelenruhe die Schultern. »Ich weiß, dass er es überleben wird. Willst du Tee haben oder mich weiter nur böse ansehen?«
Faustina erschien es bei aller Wut besser, den Tee zu nehmen, und so saßen sie bald miteinander am Feuer und hörten zu, wie der Sturm draußen immer stärker wütete. Faustina nahm es mit Sorge zur Kenntnis, aber Gotelind freute sich. »Der Wind kommt von Nordwesten her«, verkündete sie vergnügt und kraulte den übellaunigen alten Kegelrobbengeist, der ihr ständiger Begleiter war und sich solche Vertraulichkeiten nur von ihr gefallen ließ. »Gutes Wetter, um morgen Bernstein zu suchen.«
Und da man ihr besser nicht widersprach, solange man unter ihrem Dach wohnte, war es genau das, was sie am folgenden Tag unten am Strand taten, der sich im weiten Bogen um die Bucht bis nach Castra Nova im Osten zog, wo im ersten Licht die Wälle der Markgrafenburg düster aufragten.
Bernstein fanden sie allerdings nicht, so eifrig sie auch im Spülsaum stocherten; vielleicht waren ihnen die Meertrolle zuvorgekommen, die sich nach Stürmen meist noch vor den Menschen wieder hervorwagten. Dafür stolperten sie auf halbem Weg nach Castra Nova fast über einen Mann, den sie erst für einen Toten hielten, weil er vollkommen reglos und nass wie ein Schiffbrüchiger vornüber hingestürzt im Sand lag.
Informationen über meine Romane und Geschichten und eine weitere Leseprobe aus dem Ringeltaubenmantel finden sich hier.