Die Psychotherapeutin und Schriftstellerin Klara, schwer traumatisiert nach einer Missbrauchserfahrung, und der aufstrebende Maler Golo, der den Lebenskünstler mimt, aber heimlich ganz und gar nicht damit abgeschlossen hat, dass er hartnäckig den Kontakt zu seinem Sohn aus einer gescheiterten Beziehung meidet, entwickeln auf Twitter Interesse füreinander. Beide nicht mehr blutjung und aus unterschiedlichen Gründen mit gewissen Bindungsschwierigkeiten, sind sie doch vom Onlineauftritt ihres jeweiligen Gegenübers und dem, was sie in die auf Social Media sichtbar werdenden Kunst- und Lebensbruchstücke hineininterpretieren, zutiefst fasziniert. Ein Gemälde, in das Golo Klaras wolfshafte Augen nach einer Fotovorlage zu bannen versucht, und eine Kurzgeschichte, in der Klara scharfsichtiger, als sie es selbst wissen kann, Golos Vergangenheit erahnt, vertiefen die Verstrickung der beiden ineinander halb gegen ihren Willen, und so bleibt es nicht bei einer reinen Social-Media-Bekanntschaft …
In ihrem neuen Roman stellt Annette van den Bergh eine ungewöhnliche Liebesgeschichte in den Mittelpunkt, in der – wie schon der Hashtag im Titel #BOOK! erahnen lässt – die sozialen Medien, insbesondere Twitter (vor der Umwandlung in X und allen damit einhergehenden Änderungen und Abwanderungsbewegungen), eine zentrale Rolle spielen.
Doch #BOOK! erzählt diese Geschichte nicht wie ein gewöhnlicher Roman, sondern in einem dissonanten Dreiklang aus zwei Ich-Erzähler-Perspektiven und einer allwissenden Erzählstimme, die außer Begebenheiten in der realen Welt auch immer wieder mythisch-symbolische um eine einsame Wölfin und einen Jäger (ohne Rotkäppchen) einflicht, in denen man Klara und Golo erkennen kann. Wiederholt kommt es nicht nur zur direkten Wendung an das Publikum, sondern auch zur nicht gerade konfliktfreien Interaktion zwischen der Erzählinstanz und den sich ihres Aufenthalts in einem Buch durchaus bisweilen bewussten Hauptfiguren. Mit viel Sprachwucht und Wortwitz, manchmal auch nicht ohne Augenzwinkern poetisch (wenn „[e]in zaubervoller Flamingo-Morgen“ über Berlin anbricht), entwickelt sich so eine über weite Strecken metafiktionale Fiktion voller intertextueller Spielereien, die nicht nur fremde Literatur von Eichendorff über Goethe bis Handke und im Übrigen auch immer wieder bildende Kunst anzitiert, sondern auch zahlreiche Bezüge zu den eigenen Werken der Autorin herstellt (so werden einzelne Titel Annette van den Berghs hier Klara als Verfasserin zugeschrieben, und die Kneipe, in der aus der Social-Media-Bekanntschaft eine reale wird, heißt in sachter Anlehnung an die Kurzgeschichtensammlung Lost Paradise „Lost Heaven“).
Das ist vielleicht auch insofern kein Wunder, als Klara und Golo beide ihren ersten Auftritt schon in dem Sammelband Sehnsucht hatten (die Kurzgeschichten, denen sie jeweils entstammen, sind allerdings auch in #BOOK! noch einmal als Bonustexte enthalten). Beide sind ebenso sperrige wie verletzliche Charaktere mit reichlich Ecken, Kanten und Widerhaken. Ein Hund, der zwar kein Pudel ist, aber Mephisto heißt, komplettiert das kleine Hauptfigurenensemble, um das noch weitere Gestalten kreisen, die ebenfalls alle ihre Ambivalenzen haben und – so ein Leitmotiv des Romans – in den meisten Fällen wie auch die ganze Welt in irgendeiner Form „kaputt“ sind.
Dass das auch für die sozialen Medien gilt, muss eigentlich kaum noch erwähnt werden. Sicher wird nicht allen gefallen, dass dabei auch und vor allem die progressive (Literatur-)Bubble aufs Korn genommen wird (und das nicht nur, weil Klara mit Anlauf ins Fettnäpfchen tritt, als sie aus ihrer Missbrauchserfahrung heraus eine Bemerkung über etwaige Penisse in einer Frauensauna macht und daraufhin von „Woken“ als transfeindlich geschmäht und – mindestens ebenso unwillkommen – von Rechten genau dafür gefeiert wird). Aber auch, wer hier vielleicht instinktiv erst einmal zurückscheut oder lediglich Provokation wittert, sollte weiterlesen und die geschilderten Beobachtungen ernst nehmen, denn gerade weil Klara und Golo keine vorbildhaften Gestalten sind, taugen sie und ihre Erlebnisse gut dazu, einem den Spiegel vorzuhalten, was das eigene Social-Media-Verhalten angeht, sei es nun, was leidlich Harmloses und Individuelles das Hineindeuten von (zu) vielem in ein „Like“ oder einen Kommentar betrifft, oder bezogen auf die größeren und oft fataleren Dynamiken, die sich innerhalb bestimmter Gruppen entwickeln können und auch und gerade unter denen, die sich für die Guten halten (oder auch nur als solche gerieren), nicht immer frei von Doppelmoral sind. Auf beiden Ebenen wird der Kampf um Deutungshoheit jedenfalls mit harten Bandagen geführt und die eigene Position verteidigt, sei es nun die (vermeintliche) moralische Überlegenheit oder auch nur die Stellung als arrivierter Künstler, der mit einer bloßen Selfpublisherin erst einmal nicht auf Augenhöhe verkehren (und schon gar nicht von ihr durchschaut werden) will.
Nicht alles davon schwappt ins reale Leben hinüber, in dem #Book! in Annette van den Berghs geliebtem Berlin seinen Abschluss findet, aber doch genug, um nachdenklich zu stimmen, und so ist der Roman nicht zuletzt auch einer voller Denkanstöße über die Verflechtungen und Irritationen zwischen der Alltagswirklichkeit und allem Künstlerischen, Künstlichen und manchmal auch Gekünsteltem, mag es nun klein wie ein Lidstrich bzw. ein pointierter Tweet oder doch wesentlich umfassender sein.
Annette van den Bergh: #BOOK! Ohne Ort, Selbstverlag, 2024, E-Book (PDF).
Ohne ISBN.