In der provinziellen Biederkeit der Fenlands der 1980er Jahre findet die junge Hetty, die kurz vor ihrem Schulabschluss steht und von einem Studium träumt, bei ihrer Familie wenig Verständnis für ihre Literaturbegeisterung. Insbesondere ihr gewalttätiger Vater tut alles, um sie kleinzuhalten. Als sich nach einer besonders schlimmen Auseinandersetzung mit ihm herausstellt, dass sie ein Adoptivkind ist, beschließt sie, sich einen neuen Namen zuzulegen und auf die Suche nach ihren leiblichen Eltern zu gehen. Allerdings hat sie auf ihre Herkunft nur den Hinweis, dass sie ursprünglich aus Birmingham stammt. Dort angekommen findet sie durch einen glücklichen Zufall bei der zupackenden Pensionswirtin Rose nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch Unterstützung bei ihrem Vorhaben, und so beginnen turbulente Wochen, während Hetty auf die Ergebnisse ihrer Abschlussprüfungen wartet …
Seit einigen Jahren verhilft der Verlag DuMont dem 1994 verstorbenen englischen Autor J. L. Carr dankenswerterweise zu einer Renaissance in Deutschland (begonnen mit Ein Monat auf dem Land). Auch das von Monika Köpfer stilsicher und gelungen übersetzte Leben und Werk der Hetty Beauchamp ist wieder eine wunderschöne Entdeckung, in der die für Carr so charakteristische Kombination aus Humor und Melancholie voll zum Tragen kommt.
Gespickt mit in einem kleinen Anhang aufgeschlüsselten literarischen Zitaten und Anspielungen von Catull bis Robert Browning bietet Hettys Geschichte eine Mischung aus Entwicklungsroman und augenzwinkernder Gesellschaftsbeobachtung. Neben Carrs gewohnt spitzer Feder ist die große Stärke des Romans die Fülle ebenso fein gezeichneter wie exzentrischer Charaktere, denen die Ich-Erzählerin Hetty begegnet, vom Geistlichen aus Sierra Leone im Missionseinsatz in England über den kommunistischen Russen, der fotografisch die Dekadenz des Westens dokumentieren möchte, bis hin zu einer resoluten alten Dame, die ein bei Straßenkrawallen zertrümmertes Buchhandlungsschaufenster erst zur Waffenbeschaffung und dann zum Ausleihen von Lektüre nutzt. Allerlei Überraschungen und absurde Vorfälle sind bei diesem Personal selbstverständlich vorprogrammiert, auch wenn genügend Instanzen immer wieder versuchen, Spontaneität und erfolgversprechende kreative Ansätze zu untergraben und Konventionen zu zementieren, die vielen Leuten längst zu eng sind. Aber nicht nur Hettys Leben ist unaufhaltsam im Umbruch, sondern auch das in ganz England, und wie sich individuell und kollektiv die Weltsicht allmählich verschiebt, ist mit viel Witz und Wärme geschildert.
In Hettys Fall ist die grundlegende Erkenntnis, dass die Realität nicht unbedingt den Spielregeln der Literatur folgt, natürlich von feiner Ironie begleitet, denn ihr eigener Weg nimmt durchaus einige romanhafte Wendungen bis hin zu einer Schlusspointe, die Literatur und Außenwelt in mehrerlei Hinsicht noch einmal ganz neu zusammenbringt. Ernster und nicht unbedingt nur auf einen Roman anwendbar ist allerdings die von Hetty gemachte Erfahrung, dass familiäre Nähe sich nicht notwendigerweise aus Blutsverwandtschaft oder aus einer förmlichen Adoption ergibt, sondern andere und unerwartete Möglichkeiten bestehen, Menschen zu finden, die mit einem durch dick und dünn gehen und einen dann unterstützen, wenn diejenigen, von denen man es eigentlich hätte erwarten können, versagen.
Nicht nur dank solcher Überlegungen, sondern auch dank der ebenso angenehmen wie amüsanten Erzählstimme, die J. L. Carr Hetty verleiht, ist Leben und Werk der Hetty Beauchamp ein einziges Lesevergnügen, das allen, die Literatur lieben, hiermit wärmstens ans Herz gelegt sei.
J. L. Carr: Leben und Werk der Hetty Beauchamp. Köln, DuMont, 2022 (englisches Original: 1988), 272 Seiten.
ISBN: 978-3-8321-8185-7