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Lavendelblues

Der ganz auf Rosenmotive ausgerichtete Kunsthandwerks- und Antiquitätenladen, den Dahlia im Elsass führt, steht kurz vor der Pleite. Auch ihre Freundin, die Sängerin Estelle, hat kaum noch Erfolg und fühlt sich noch dazu von ihrer Beziehung zu dem eigentlich ganz liebenswerten Yves eingeengt. Besser getroffen zu haben scheint es nur Bruni, die Dritte im Bunde, die mit ihrem Geliebten im malerischen Quercy lebt und ihre Freundinnen mit schwärmerischen Postkarten aus ihrem kleinen Paradies förmlich überschüttet. Doch als Dahlia und Estelle spontan zu einem Überraschungsbesuch bei Bruni aufbrechen, erweist sich sehr schnell, dass auch das südfranzösische Idyll seine Schattenseiten hat – und dass die vermeintlich so triste eigene Situation vielleicht doch mehr Anlass zur Hoffnung bietet, als man sich selbst bisher eingestehen wollte …
Weder die Inhaltszusammenfassung noch die Covergestaltung kann Petra van Cronenburgs Roman gerecht werden, denn beides lässt einen auf den ersten Blick wohl zunächst an einen gefälligen Unterhaltungsroman denken. Dass der Lavendelblues sich nicht unterhaltsam liest, kann man auch nicht behaupten – aber er hat nichts Seichtes oder Glattgebügeltes, sondern ist ein tiefsinniger, poetischer und auf seine Art sehr literarischer Roman.
In hohem Maße ist das den unbestechlich, aber oft mit viel Sympathie gezeichneten Figuren zu verdanken: der Ich-Erzählerin Dahlia, deren Ringen mit den zweifelhaften Freuden der beruflichen Selbständigkeit realitätsnah wirkt, der ihr zunächst lästigen Madame Frédéric, hinter deren Erzählungen von der schlechten alten Zeit unverhofft viel Mut und Menschlichkeit stecken, einem Münchhausen unter den Künstlern und nicht zuletzt einem weisen jüdischen Philosophen, der an seinem harten Schicksal nicht zerbrochen ist, sondern die Lebensfreude mehr als jeder andere zu zelebrieren weiß.
Das tut auch der Roman selbst, denn seine zweite große Stärke sind die sinnlich nachempfindbaren Schilderungen der Natur und Umgebung, aber auch der Macht der Kunst. Bei der Beschreibung der Reise der Protagonistinnen durch halb Frankreich läuft man Gefahr, akutes Fernweh zu entwickeln (bei mir war es spätestens an dem Punkt so weit, an dem Weiden voller weißer Charolais-Rinder und der heilige Leodegar von Autun erwähnt werden). Andere Stellen dagegen lassen einen in den Eindrücken, Gefühlen und Gedanken versinken, die Musik, Tanz oder Bilder in einem hervorrufen können. Ein improvisierter Straßentheaterauftritt wird zur verzauberten Traumvision, und künstlerische Fotos erweisen sich als Wegweiser Richtung Selbsterkenntnis. Gelegentlich wünscht man dieser ganzen Fülle den Platz, tiefer ausgelotet und nicht nur impressionistisch angedeutet zu werden; fünfzig Seiten mehr hätten dem Roman vielleicht nicht geschadet.
Doch das, was da ist, muss man einfach genießen und als Denkanstoß nehmen: Denn Lavendelblues ist bei allem mitschwingenden Wissen darum, wie übel das Leben sein kann, und aller berechtigten Kritik an Egoismus, vulgärem Gebaren und schierer Bräsigkeit einfach eine Feier des Schönen, der Kunst und des Muts, sich nicht von Selbstmitleid unterkriegen zu lassen. Die lyrische Sprache, die reizend Unerwartetes bietet (darunter eine sehr charmante Kröte mit einem Bauch voller Sterne), und die wunderbaren Kapitelüberschriften (leider heutzutage Mangelware) runden den angenehmen Lektüreeindruck ab.
Wer Frankreich liebt, eine Aufmunterung braucht oder einfach nur einmal wieder einen Roman lesen möchte, der einen zufrieden und erfüllt zurücklässt, sollte also unbedingt zu diesem Buch greifen.

Petra van Cronenburg: Lavendelblues. Bergisch Gladbach, BLT (Lübbe), 2006, 254 Seiten.
ISBN: 9783404922147

Die hier besprochene Taschenbuchausgabe ist leider nur noch antiquarisch erhältlich, aber es gibt den Lavendelblues auch als e-Book.


Genre: Roman

Faszination Nijinsky. Annäherung an einen Mythos

Eine Annäherung an einen Mythos verspricht Petra van Cronenburg im Untertitel ihres Buchs über den berühmten Balletttänzer Vaslav Nijinsky (1889-1950), und in der Tat ist das, was sie vorlegt, keine klassische Biographie. Wer mit streng chronologisch organisierter Wissenschaftsprosa rechnet, die den Werdegang ihres Protagonisten von der Wiege bis zur Bahre nachzeichnet, erlebt hier eine Überraschung. Denn was mit Nijinskys skandalumwitterter erster Choreographie L’Après-midi d’un faune (1912) einsetzt, macht das Schreiben über die Kunst selbst zum Kunstwerk.
In drei „Hefte“ aufgeteilt und mit Zitaten von Zeitgenossen durchflochten bietet der auch typographisch liebevoll gestaltete Band zunächst ein Lebensbild Nijinskys, um dann in ausführlichen Interviews mit dem Ballettdirektor Ralf Rossa und dem Kunsthistoriker Michael Braunsteiner Nijinsky als Tänzer und als bildenden Künstler in den Blick zu nehmen (Abbildungen von Nijinskys eigenem zeichnerischen Schaffen sind übrigens das Einzige, was man in dem mit einer Fülle von Fotos des Tänzers und der Privatperson illustrierten Buch ein wenig vermisst).
Kaleidoskopartig entwickelt sich aus vielen Einzelbeobachtungen und unterschiedlichen Perspektiven das sensible Porträt eines Menschen, der zwar als Ausnahmekünstler das Ballett revolutionierte, aber seinen eigentlichen Wunsch nie erfüllt sah, nicht primär intellektuell verstanden, sondern emotional angenommen zu werden. Umso passender und berührender sind die intensiven Schilderungen im biographischen Teil, die über weite Strecken zum Mitempfinden anregen.
Mitempfinden heißt in diesem Fall auch und vor allem Mitleiden, denn ein glückliches Leben führte Nijinsky nicht, und das nicht nur, weil er den Starrummel um seine Person schlecht verkraftete und es sich und seinem Umfeld als Perfektionist mit ambitionierter künstlerischer Vision oft alles andere als leicht machte. Schon als junger Ballettschüler in Russland aufgrund seiner außergewöhnlichen Begabung Neid und Anfeindungen ausgesetzt, geriet er in seinem Privatleben immer wieder in zwiespältige Liebesbeziehungen. So förderte zwar der wesentlich ältere Sergej Diaghilew als Impresario der Ballets Russes die Karriere seines jungen Geliebten, dominierte ihn aber auch und nutzte ihn aus. Auch Nijinskys überstürzt geschlossene Ehe mit seiner zudringlichen Verehrerin Romola de Pulszky, die wohl eher ihr Idealbild von ihm als den realen Menschen liebte, war auf die Dauer kein Glücksgriff, sondern begünstigte seine als Schizophrenie fehldiagnostizierten Depressionen. Durch eine Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg noch zusätzlich gebeutelt, glitt er ab 1919 immer tiefer in seine psychische Erkrankung ab und war jahrzehntelang fragwürdigen Therapien ausgesetzt, die ihn auch körperlich zugrunde richteten.
Während seiner kurzen aktiven Zeit jedoch faszinierte er sein Publikum als Tänzer nicht nur durch seine überragende Körperbeherrschung und seine androgyne erotische Ausstrahlung, sondern ging auch das Risiko ein, das Ballett mit provokanten Darbietungen aus dem Bereich der gefälligen Unterhaltung zu lösen und als eigenständige Kunstform in die Moderne zu führen.
Petra van Cronenburgs großes Verdienst ist es in diesem Zusammenhang, Nijinsky nicht etwa isoliert zu betrachten, sondern ihn in den Kontext der grenzübergreifenden europäischen Kulturszene einzufügen, der der Erste Weltkrieg schon einen entscheidenden Schlag versetzte und die mit dem Zweiten Weltkrieg endgültig unterging (wie von Volker Weidermann in Ostende eingefangen). Anhand herausragender Einzelwerke wie Thomas Manns Tod in Venedig und ganzer Strömungen wie der erwachenden Begeisterung für vor- und frühgeschichtliche Kunst wird der geistige Kosmos, in dem Nijinsky sich bewegte, feinfühlig umrissen. Gelegentlich geht der Blick sogar über den Atlantik, denn selbst Charlie Chaplin blieb von Nijinsky nicht unbeeinflusst.
So ist die Lektüre nicht nur für Ballettinteressierte eine große Bereicherung, sondern wirft auch ein Schlaglicht auf eine Epoche, der die brutalen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts den Todesstoß versetzten, die aber immer noch immensen Einfluss auf unser heutiges Kunst- und Kulturverständnis hat. Nijinskys Tragik verweist damit über sein individuelles Schicksal hinaus auf größere Zusammenhänge, deren Kenntnis gerade angesichts unserer unruhigen Gegenwart lehrreicher und wichtiger denn je ist.

Petra van Cronenburg: Faszination Nijinsky. Annäherung an einen Mythos. Münster, Edition Octopus (Monsenstein und Vannerdat), 2011, 128 Seiten.
ISBN: 9783869913629


Genre: Biographie, Kunst und Kultur