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Eine Kiste voller Weihnachten

Dresden im späten 19. Jahrhundert. Vincent Storch ist erfolgreicher Hersteller sogenannter „Dresdner Pappen“, einer speziellen Form von Weihnachtsdekoration aus geprägtem und vergoldetem Papier. Privat seit einem nie beigelegten Familienkonflikt griesgrämig und zynisch eingestellt, legt er höchsten Wert auf den guten Ruf seines Unternehmens. Als sich ausgerechnet nach Betriebsschluss am Heiligabend herausstellt, dass eine Lieferung an die Kirchengemeinde im erzgebirgischen Zinnwald schlicht vergessen worden ist, kommt das für Storch daher einer Katastrophe gleich, und er beschließt, den Schaden höchstpersönlich durch eine riskante Fahrt ins winterliche Bergland zu beheben. Dass sich die kleine Lisbeth, die in verzweifelter Lage aus Dresden zurück zu ihrer Familie im Erzgebirge möchte, als blinde Passagierin auf seinem Wagen einschleicht, behagt ihm zunächst überhaupt nicht. Doch im Laufe des beschwerlichen Wegs freunden die beiden ungleichen Reisegefährten sich immer mehr miteinander an, so dass es Storch schon längst nicht mehr kaltlässt, als Gerüchte über ein Unglück zu ihnen dringen, von dem Lisbeths ohnehin vom Schicksal gebeutelte Familie betroffen sein könnte …
Eine Kiste voller Weihnachten gehört zu einer seit einigen Jahren in loser Folge bei Rowohlt veröffentlichten, von Andrea Offermann entzückend illustrierten Reihe von Weihnachtserzählungen (weitere Beispiele sind hier und hier rezensiert). Die Gestalt des verbitterten alten Geschäftsmanns, der zu Weihnachten doch noch seine menschliche Seite wiederentdeckt, ist seit Charles Dickens‘ Ebenezer Scrooge nicht neu in der Literatur, aber Ralf Günther legt mit seinem Vincent Storch eine phasenweise durchaus amüsante und nicht allzu süßliche Interpretation dieses Figurentypus vor. In ihm und der Bergmannstochter Lisbeth prallen auch abgesehen vom Kontrast zwischen Stadt und Land sowie Alt und Jung gegensätzliche Lebenswirklichkeiten und Weltanschauungen aufeinander, die sich allerdings bisweilen recht gut ergänzen, wenn Schwierigkeiten zu meistern sind. Wie die beiden Protagonisten sich Stück für Stück zusammenraufen, ist nett und gefällig erzählt, auch wenn ein Teil ihrer Abenteuer vielleicht einen etwas harmloseren Verlauf nimmt, als es in der Realität zu erwarten wäre (so z.B. die Begegnung mit zwei nicht unbedingt mit den größten Geistesgaben gesegneten Gaunern). Das Ende dagegen ist in seiner Offenheit nicht zu glatt gestaltet, um glaubhaft zu bleiben: Sowohl Vincent als auch Lisbeth sind zum Schluss zwar optimistisch, was die Entwicklung ihrer jeweiligen Situation angeht, aber darüber, ob sich ihre Erwartungen erfüllen werden, muss man als Leserin oder Leser selbst zu einem Schluss kommen.
Seinen Charme verdankt das kleine Buch aber gar nicht so sehr der Handlung allein, sondern vor allem auch der liebevollen Schilderung einer Welt im Wandel, die krasse soziale Gegensätze und archaische Verhältnisse ebenso kennt wie erste Anzeichen der Moderne und einen gewissen Glanz – auch wenn er unter der Oberfläche dann doch nur aus Papier sein mag. Ein paar wohlige Lesestunden, die Weihnachtsstimmung aufkommen lassen, sind so garantiert.

Ralf Günther: Eine Kiste voller Weihnachten. Hamburg, Kindler / Rowohlt, 2019, 128 Seiten.
ISBN: 978-3463406978


Genre: Roman