Archive

German Glück

Im internationalen Vergleich geht es uns Deutschen ziemlich gut, was Lebensstandard, medizinische Versorgung, Bildungschancen und dergleichen mehr betrifft. Im Glücksempfinden scheint sich das jedoch nicht niederzuschlagen. German Angst gilt als charakteristische Befindlichkeit in der Bundesrepublik, nicht das in augenzwinkernder Anspielung darauf zum Buchtitel gewordene German Glück, und sogar innerhalb des Landes ist bei der Zufriedenheit der Norden dem wirtschaftlich starken Süden um Längen voraus.
Einen möglichen Erklärungsansatz für die auf den ersten Blick paradoxe Situation findet man, wenn man die von Sabine Eichhorst ansprechend und lebendig wiedergegebenen Gespräche mit mehr oder minder Glücklichen liest, denn eines erweist sich schnell: Glück bedeutet nicht unbedingt, dass die äußeren Umstände ideal sind.
Die Auswahl von vorgestellten Personen deckt eine große Bandbreite ab. Von der Neunjährigen bis hin zu älteren Damen und Herren haben Menschen ihren Auftritt, die hinsichtlich ihres Berufs, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer geographischen und sozialen Herkunft und ihrer Vorlieben gar nicht unterschiedlicher sein könnten. Natürlich sind darunter auch durchaus Glückspilze im landläufigen Sinne (etwa der Gewinner einer Quizshow, der sein Glück aber interessanterweise gar nicht in der dort erspielten hohen Geldsumme sieht), und manche der Interviewten hatten durch eine liebevolle Herkunftsfamilie oder günstige Zeitumstände bessere Chancen als andere. In den weitaus meisten Fällen jedoch sind die skizzierten Biographien von überwundenen oder noch ertragenen Widrigkeiten geprägt.
Manche Schicksale machen einen zutiefst betroffen: So begegnen einem eine Frau, die sich als kleines Kind nach Ende des Zweiten Weltkriegs unter erbärmlichen Bedingungen allein in Ostpreußen durchschlagen muss und erst viel zu spät erfährt, was aus ihrem verschollenen Vater geworden ist, eine syrische Flüchtlingsfamilie, die sich auf abenteuerlichen getrennten Wegen nach Deutschland rettet, und ein junger Mann, der durch ein Erkrankung einen Teil seines Gedächtnisses verliert, so dass ihm zwar Sprach-, Musik- und Computerkenntnisse, aber keine persönlichen Erinnerungen bleiben. Andere Katastrophen sind nicht ganz so unfassbar, für die Betroffenen aber nicht minder tragisch, ob es nun um eine Firmenpleite, die Demenz des Ehepartners oder ein Leben im Rollstuhl geht.
Neben all diesen zumindest auf den ersten Blick traurigen Geschichten stehen aber auch viele weniger dramatische von beruflichen oder privaten Neuorientierungen, unkonventionellen Daseinsformen (wie einer Phase als Eremitin) und gelingenden Ehen. Bisweilen geht es auch einfach nur um die Freude an Natur, Gesang, Lektüre und scheinbaren Kleinigkeiten.
In die fein beobachteten Porträts sind an passender Stelle mit leichter Hand Forschungsergebnisse zum Thema Glück eingeflochten. Nach und nach kristallisiert sich so ein Bild dessen heraus, was Glück eigentlich ausmacht. Bestimmte körperliche und psychische Grundbedürfnisse müssen selbstverständlich erfüllt sein, damit man Glück empfinden kann, aber abgesehen davon sind es nicht etwa großer Reichtum und perfekte Gesundheit, die einen zum glücklichen Menschen machen, sondern neben tragfähigen Bindungen vor allem innere Überzeugungen.
Oft spielt dabei Glaube eine Rolle, ob nun an Gott oder nur daran, dass sich die Lage schon zum Guten wenden wird, weil sich bisher noch immer alles irgendwie ergeben hat. Vor allem aber ist es das Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, die sogenannte Selbstwirksamkeit, das einem die Tür zum Glück öffnet. Wer sich nicht hilflos einer Situation ausgeliefert fühlt, sondern die Dinge in die Hand nimmt, soweit es eben geht, wird offenbar glücklicher als allzu passive Zeitgenossen.
Es ist vor allem diese Erkenntnis, die German Glück trotz aller Härten, die geschildert werden, zu solch einem tröstlichen und hoffnungsvollen Buch macht. Ein Lektüregenuss ist es übrigens auch abseits aller Denkanstöße, denn Sabine Eichhorsts Begabung, Orte, Stimmungen und Menschen in der Anmutung locker-impressionistisch, in der Sache aber immer präzise und unbestechlich heraufzubeschwören, zeigt sich in den kurzen Lebensbildern wunderschön. Ein bisschen Alltagsglück liegt also auch darin, in German Glück zu versinken.

Sabine Eichhorst: German Glück. Reise durch ein unerwartet glückliches Land. München, Ludwig, 2017, 256 Seiten.
ISBN: 9783453280892


Genre: Sachbuch allgemein

Die Liebe meines Vaters

Im Jahre 1930 reist der angehende Lehrer Loris aus einer Laune heraus nach Budapest. Für den kunstsinnigen jungen Mann bildet die kosmopolitische Stadt einen verlockenden Gegensatz zur provinziellen Enge seiner württembergischen Heimat. Durch die Zufallsbekanntschaft mit dem Journalisten Béla findet er schnell Anschluss an einen ungarischen Freundeskreis und verliebt sich in die selbstbewusste und intelligente Hutmacherin Éva. Was als unbeschwerte Sommerbeziehung beginnt, wird den beiden trotz langer Trennungsphasen immer wichtiger und steht doch unter keinem guten Stern: Die Verwerfungen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs sprengen selbst enge Freundschaften, und der eher unpolitische Loris muss die bittere Erfahrung machen, dass höfliche Zurückhaltung einen nicht davor bewahrt, in den Strudel der Katastrophe gerissen zu werden, die radikalere Geister angestoßen haben. Als er, längst mit einer anderen verheiratet, in den Krieg zieht, der sein weiteres Schicksal bestimmen soll, scheinen seine Budapester Erlebnisse sehr fern – und doch werden sie Jahre später für seine Tochter Maria noch große Bedeutung gewinnen.
Vor allem eine Liebesgeschichte also? Ja und nein. Natürlich ist die Nähe, die sich bei aller nicht nur geographischen Ferne zwischen Loris und Éva entwickelt, der Kern, um den sich die gesamte Handlung entspinnt. Doch der Roman ist auch und vor allem ein pralles Panorama einer bewegten Epoche.
Die sinnlichen Beschreibungen des alten Budapest mit seinen Gerüchen, seiner kulturellen Vielfalt und immer wieder auch seinem leitmotivisch wiederkehrenden Himmel erinnern an den besten Stellen atmosphärisch an Joseph Roths Schilderungen des späten Habsburgerreichs. Diesem Schwelgen in kulinarischen Genüssen, Musik, Prachtbauten und Lichtstimmungen stehen im Mittelteil des Romans ebenso intensive Darstellungen der Kriegsgräuel, mit denen Loris als Opfer wie als Täter konfrontiert ist, und des harten Lebens seiner oft überforderten Frau Elsa auf der Schwäbischen Alb gegenüber. Die auf echten Vorbildern beruhenden Feldpostbriefe, mit denen die beiden Kontakt halten, zeichnen hautnah und präzise das Scheitern einer Ehe an den Zeitläuften und an gegenseitigem Unverständnis nach.
Doch nicht nur in ihnen zeigt sich Eichhorsts Talent, fein beobachtete Charakterstudien der Figuren zu entwerfen, die den historischen Rahmen ebenso sehr prägen, wie sie von ihm geprägt werden: Von den Bauern, bei denen Elsa Unterschlupf findet, über die Soldaten in Loris‘ Umfeld bis hin zu Évas quirliger Schwesternschar, immer hat man das Gefühl, es eher mit lebenden Menschen als mit Romangestalten zu tun zu haben.
Ein wiederkehrendes Thema sind dabei Familienstrukturen und ihre Auswirkungen, am sinnfälligsten vielleicht in der titelgebenden Liebe meines Vaters zu fassen, die sich nicht etwa nur auf die Jugendliebe von Marias Vater bezieht, sondern ebenso sehr auf den Verlust von Vaterliebe (der sie und ihre Mutter Elsa jeweils trifft), die unerfüllte Sehnsucht danach (die in Loris‘ eigener Biographie mitschwingt) und schließlich den Segen, den ein tatsächlich liebender Vater bedeuten kann, wie der weise György, dem Éva einen Gutteil ihrer Selbstsicherheit und Lebenstüchtigkeit verdankt.
Doch Mehrdeutigkeit und Reichtum an Sinnebenen sind nicht auf den Titel allein beschränkt, sondern schwingen auch in Details wie der sicher nicht zufälligen Namensgebung mit: So verhilft Éva zur Erkenntnis und ist Bewohnerin eines Paradieses, das verloren geht. Maria dagegen, schon als Kind von ihrem von seiner Ehe enttäuschten Vater zur privaten Heilsbringerin überhöht, hat die Hoffnung, dieses Paradies in gewissem Maße zurückzugewinnen – doch dazu ist erst die Rückbesinnung auf Éva notwendig.
Schade ist allein, dass Marias Geschichte, die in etwa die letzten 80 Seiten umfasst, so eher die Funktion eines Nachspiels zu der ihres Vaters erhält und nicht noch tiefer ausgelotet wird, denn die Kürze ist mit einigen Raffungen erkauft (beispielsweise wird der weitere Weg einer für den Beginn des Romans so zentralen Gestalt wie Béla nur in wenigen Sätzen referiert, und man ertappt sich bei dem Wunsch, man hätte mehr davon miterleben dürfen).
Alles in allem jedoch ist Die Liebe meines Vaters so nachdenklich, unendlich traurig, tröstlich und dabei immer wieder auch herzzerreißend schön, dass der Roman durchaus das Zeug hat, zu einem modernen Klassiker zu werden. Es wäre ihm zu wünschen.

Sabine Eichhorst: Die Liebe meines Vaters. München, Droemer Knaur, 2016, 363 Seiten.
ISBN: 9783426516652


Genre: Roman