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Das Nordseekind

Als junger Anwalt in Husum kommt Theodor Storm immer noch nicht auf einen grünen Zweig, und die auf der Suche nach einem Rechtsbeistand in die Stadt gereiste Rendsburger Köchin Enna Lorenzen, der sein Schreiber Peter Söt durch Zufall begegnet, erweist sich als wenig vielversprechende Mandantin: Zu weit hergeholt wirkt ihre Behauptung, sie sei in Wirklichkeit die seit Jahrzehnten verschollene Tochter der reichen Familie van Ovens und daher Erbin eines großen Vermögens. Doch kaum ist die Frau zornig darüber, nicht ernst genommen worden zu sein, wieder abgezogen, kommt es zu einem mysteriösen Todesfall im Haushalt von Storms Vater und zu weiteren Verbrechen, die alle eine Verbindung zu Enna Lorenzens Anliegen aufzuweisen scheinen. Allerdings ist die Obrigkeit bald nicht mehr einverstanden damit, dass Storm in der Sache ermittelt, und sogar sein Vater scheint etwas Entscheidendes zu verbergen zu haben …

Tilmann Spreckelsen schickt den heute eher als Schriftsteller denn als Juristen berühmten Theodor Storm in seinem neuen Krimi Das Nordseekind nicht zum ersten Mal auf Mörderjagd, und wie immer sind auch viele Anspielungen auf das literarische Werk seines Helden dabei. Diesmal hat vor allem die Novelle Auf dem Staatshof viel Inspiration bis in die Details von Formulierungen, Handlung und Personal geliefert (wobei allerdings nur Wieb, Marten, Anna Lena und deren Großmutter – allerdings mit beträchtlichen Änderungen in Charakter und Rolle – zumindest eine äußerliche Ähnlichkeit zu ihren Vorbildern bei Storm aufweisen, während die Namen Marx und Simon an gänzlich anders gestaltete Figuren vergeben sind). Das Motiv des vielleicht unrecht erworbenen Vermögens der ursprünglichen Besitzer des Staatshofs ist weiterhin von Bedeutung, aber mit der grausigen Sage um Die Wogenmänner verknüpft, die als Handlungsstrang auf einer zweiten Zeitebene als reales Geschehen des 14. Jahrhunderts erzählt wird, dessen Folgen bis in die Romangegenwart weiterwirken.

Spreckelsen schreibt wie immer sprachlich schön, mit großem Verständnis für seine literarischen Quellen und oft auch mit leisem Humor, und ist gerade in seinen Schilderungen der Landschaft (in der dann auch schon einmal ein fast wörtlich dem Staatshof entlehnter brüllender Ochse als augenzwinkernder Anklang auftauchen darf) und der Lebensverhältnisse des 19. Jahrhunderts stark. Die Hauptfigurenrunde um den Ich-Erzähler Peter Söt, der sich hier als junger Familienvater bewähren muss, bleibt unterhaltsam und nicht unsympathisch. Mit häuslicher und sexueller Gewalt an Frauen sowie der Beobachtung, dass oft gesellschaftliche Unterstützung für die Opfer fehlt und auch weibliche Solidarität untereinander an den verschiedensten Faktoren scheitern kann, greift der Roman bittere, aber leider bis heute aktuelle Themen auf.

Die Handlung selbst allerdings überzeugt nicht hundertprozentig, und das nicht nur, weil manches Detail (wie der jahrhundertealte Geheimbund, der bei allem die Finger im Spiel hat) dann doch weit hergeholt wirkt. Wirklich lästig ist vor allem das Übermaß an Blutvergießen, dem zur Steigerung der allgemeinen Schaurigkeit sogar Storms an den menschlichen Umtrieben unschuldiger Bürokater zum Opfer fällt. Kommt es schon in der Jetztzeit des Romans zu einem gewaltsamen Todesfall nach dem anderen (und zu guter Letzt auch noch zur Aufdeckung eines vertuschten Mordes in der jüngeren Vergangenheit und zu einem Selbstmord), treibt der mittelalterliche Handlungstrang mit sorgsam eingeübten Meuchelmorden für einen guten Zweck, einer Massenhinrichtung und ebenfalls einem Selbstmord die Brutalität auf die Spitze. Fast ist man versucht, eine andere Storm-Novelle, Ein Fest auf Hadersleevhus, zu zitieren: und sie starben alle, alle. Nun gut – vielleicht nicht ganz alle, denn die Figuren, die als historische Gestalten oder zwecks Verwendung in möglichen weiteren Bänden überleben müssen, tun das durchaus. Die schiere Masse an Ermordeten aber ist einem am Ende dieses Buchs zu viel, und da Spreckelsen – wie oben erwähnt – schreiben kann, bräuchte er zur Aufrechterhaltung des Interesses eigentlich nicht den Schockeffekt, eine Leiche auf die andere folgen zu lassen. Falls das Ziel allerdings ist, das Lesepublikum zur Selbstreflexion anzuregen, ob Morde wirklich der Unterhaltung dienen sollten, wird es wohl erreicht – vermutlich wird man bei seiner Lektüreauswahl nach dem Nordseekind nicht gleich zum nächsten Krimi greifen.

Tilman Spreckelsen: Das Nordseekind. Theodor Storm ermittelt. Berlin, Aufbau, 2023, 256 Seiten.
ISBN: 978-3-7466-4010-5


Genre: Roman

Das Nordseegrab

Nicht ganz freiwillig tritt Peter Söt, den ein dunkles Geheimnis umgibt, als Schreiber in die Dienste des jungen Anwalts Theodor Storm, der sich lieber mit seinem neugegründeten Gesangsverein und dem Sammeln alter Sagen befasst als mit seinem eigentlichen Beruf. Doch kaum dass Söt die Stelle in Husum angenommen hat, häufen sich dort seltsame Geschehnisse. Ein vermeintlicher Leichenfund entpuppt sich zwar noch als makabrer Streich, aber kurz darauf kommt es tatsächlich zu einem sonderbaren Todesfall. Da sich unerwartet Querverbindungen zu Storms Anwaltstätigkeit ergeben, stecken er und Söt im Handumdrehen nolens volens in einer Mordermittlung, und es mehren sich die Anzeichen, dass auch noch andere als das erste Opfer in Gefahr schweben könnten …

Der berühmte Schriftsteller Theodor Storm als Privatdetektiv wider Willen? Das klingt auf den ersten Blick nach einer Idee, die schnell schiefgehen könnte, aber in den Händen des Germanisten und Historikers Tilman Spreckelsen funktioniert sie verblüffend gut. So verwundert es nicht, dass dieser Roman kein Einzelband geblieben, sondern inzwischen zum Auftakt einer Krimireihe geworden ist. Mit viel Gespür für Lokalkolorit und historische Umstände beschwört Spreckelsen ein Husum von 1843 herauf, von dem man nur zu gern glauben möchte, dass es durchaus so gewesen sein könnte, und spickt die spannende Geschichte mit zahlreichen augenzwinkernden Anspielungen auf Storms Werke.

Als gute Wahl erweist sich auch die Verwendung des Ich-Erzählers Peter Söt, der als Außenstehender Leserinnen und Leser gut an Schauplatz und Ereignisse heranführen kann. Ein klassischer Watson ist er freilich nicht, denn ganz abgesehen davon, dass er oft selbst kluge Beobachtungen macht und Storm einen Schritt voraus ist, hat er durch seine düstere Vergangenheit mehr mit den merkwürdigen Vorgängen zu tun, als ihm zunächst selbst klar ist. Auf welcher Seite er am Ende wirklich stehen wird, bleibt lange offen.

Die Atmosphäre ist über weite Strecken angemessen unheimlich, wird aber durch den immer wieder aufblitzenden Humor aufgelockert, der aus den Dialogen ebenso spricht wie aus den Personenbeschreibungen. Von den Honoratioren Husums über Wirtsleute, Bauern und Dienerschaft bis hin zum wunderlichen Stadtoriginal und zum kleinkriminellen Armenhausinsassen werden die Figuren gekonnt und einprägsam skizziert.

Zunächst scheinbar unverbunden mit der Handlung in Husum wird in schlaglichtartigen Rückblicken die Geschichte eines nicht alltäglichen Schiffsuntergangs erzählt, der zum Ausgangspunkt für die nicht auf einen einzigen Mord beschränkten Verbrechen in der Romangegenwart wird. Spreckelsen hat sich dabei, wie er in seinem lesenswerten Nachwort erläutert, von tatsächlichen geschichtlichen Vorgängen inspirieren lassen, dabei aber in der Realität Unverbundenes zu einem großen Ganzen verknüpft. Das Experiment ist weitaus besser geglückt als in vielen anderen Historienkrimis.

Zwar sind die recht kurzen Kapitel manchmal etwas zu gewollt auf einen Spannungshöhepunkt hinkomponiert, aber eine flotte und unterhaltsame Lektüre bis zum hochdramatischen Finale ist dadurch garantiert. Wer Lust auf einen ebenso vergnüglichen wie schaurigen Ausflug in norddeutsche Gefilde hat, sollte dem ermittelnden Storm also unbedingt eine Chance geben.

Tilman Spreckelsen: Das Nordseegrab. Ein Theodor-Storm-Krimi. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch, 2015, 272 Seiten.
ISBN: 978-3-596-19483-4

 

 


Genre: Roman

Loreley und Schlangenfrau

Es ist nicht den Nibelungen allein zu verdanken, dass der Rhein und seine Umgebung als „sagenhafte“ Gegend par excellence gelten. Burgenromantik, geschichtsträchtige Stätten und nicht zuletzt die Funktion des Flusses als Verkehrsweg und Schnittstelle zwischen verschiedenen Ländern und Kulturen sorgen dafür, dass sich alle möglichen Geschichten mit der Region verbinden. Aus Sagensammlungen des 19. und 20. Jahrhunderts hat Tilman Spreckelsen für Loreley und Schlangenfrau eine bunte Auswahl zusammengestellt, die dem Lauf des Rheins von der Schweiz bis in die Niederlande folgt.
Die abgedeckte Bandbreite ist dabei groß, von der Form wie vom Inhalt her: Von längeren Erzählungen bis zu lakonisch auf zwei Sätze beschränkten Texten ist alles dabei. Einige Geschichten überformen tatsächliche oder vermeintliche historische Begebenheiten literarisch, während andere mit einer Fülle von märchenhaften und phantastischen Elementen aufwarten (wie der im Titel erwähnten, auf Erlösung hoffenden Schlangenfrau). Berühmtes steht neben eher Ungewohntem: Von der Loreley oder vom Binger Mäuseturm haben wahrscheinlich viele schon  einmal etwas gehört, vom Friesenherrscher Radbod oder von Einhard und Emma zumindest Geschichtsinteressierte. Andere Sagen drehen sich eher um Lokalheroen (wie etwa einen Wilderer aus dem Frankfurter Raum) oder um Motive, die man auch aus anderen Gebieten kennt, wie Teufelsspuk, bestraftes menschliches Fehlverhalten oder böse Vorzeichen. Gerade die Heterogenität der Mischung sorgt für Abwechslung und hält die Neugier wach, und so liest man sich mit Vergnügen durch die drei geographischen Räume, nach denen die Sammlung geordnet ist („Der junge Rhein und seine Zuflüsse“, „Von Basel bis zum Niederrhein“, „Das Rheindelta in den Niederlanden“).
Allein – die Sagen selbst sind auch so gut wie alles, was man bekommt, denn das Beiwerk fällt mager aus. In seinem Nachwort legt Spreckelsen zwar pauschal offen, auf welche vier Bücher er sich hauptsächlich gestützt hat (neben den Sagensammlungen Ludwig Bechsteins und der Brüder Grimm auch Johann Wilhelm Wolfs Niederländische Sagen und Meinrad Lienerts Schweizer Sagen und Heldengeschichten). Der sonst in Anthologien dieser Art übliche Einzelnachweis der Quellen für die jeweiligen Sagen fehlt jedoch leider. Auch die an gleicher Stelle angestellten Betrachtungen zur Stoffgeschichte und Flexibilität der Textgattung, die gerade vom Weitererzählen und zeitbedingten Umformen lebt, bleiben recht kurz und knapp.
Deshalb ist der Eindruck, den man von Loreley und Schlangenfrau hat, am Ende etwas gemischt. Zur kurzweiligen Lektüre taugt der Band auf jeden Fall, aber man hätte sich doch ein paar zusätzliche Ansatzpunkte für einen tieferen Einstieg ins Thema gewünscht.

Tilman Spreckelsen (Hrsg.): Loreley und Schlangenfrau. Rheinsagen von der Quelle bis zur Mündung. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch, 2018, 240 Seiten.
ISBN: 9783596906772


Genre: Märchen und Mythen