Nicht ganz freiwillig tritt Peter Söt, den ein dunkles Geheimnis umgibt, als Schreiber in die Dienste des jungen Anwalts Theodor Storm, der sich lieber mit seinem neugegründeten Gesangsverein und dem Sammeln alter Sagen befasst als mit seinem eigentlichen Beruf. Doch kaum dass Söt die Stelle in Husum angenommen hat, häufen sich dort seltsame Geschehnisse. Ein vermeintlicher Leichenfund entpuppt sich zwar noch als makabrer Streich, aber kurz darauf kommt es tatsächlich zu einem sonderbaren Todesfall. Da sich unerwartet Querverbindungen zu Storms Anwaltstätigkeit ergeben, stecken er und Söt im Handumdrehen nolens volens in einer Mordermittlung, und es mehren sich die Anzeichen, dass auch noch andere als das erste Opfer in Gefahr schweben könnten …
Der berühmte Schriftsteller Theodor Storm als Privatdetektiv wider Willen? Das klingt auf den ersten Blick nach einer Idee, die schnell schiefgehen könnte, aber in den Händen des Germanisten und Historikers Tilman Spreckelsen funktioniert sie verblüffend gut. So verwundert es nicht, dass dieser Roman kein Einzelband geblieben, sondern inzwischen zum Auftakt einer Krimireihe geworden ist. Mit viel Gespür für Lokalkolorit und historische Umstände beschwört Spreckelsen ein Husum von 1843 herauf, von dem man nur zu gern glauben möchte, dass es durchaus so gewesen sein könnte, und spickt die spannende Geschichte mit zahlreichen augenzwinkernden Anspielungen auf Storms Werke.
Als gute Wahl erweist sich auch die Verwendung des Ich-Erzählers Peter Söt, der als Außenstehender Leserinnen und Leser gut an Schauplatz und Ereignisse heranführen kann. Ein klassischer Watson ist er freilich nicht, denn ganz abgesehen davon, dass er oft selbst kluge Beobachtungen macht und Storm einen Schritt voraus ist, hat er durch seine düstere Vergangenheit mehr mit den merkwürdigen Vorgängen zu tun, als ihm zunächst selbst klar ist. Auf welcher Seite er am Ende wirklich stehen wird, bleibt lange offen.
Die Atmosphäre ist über weite Strecken angemessen unheimlich, wird aber durch den immer wieder aufblitzenden Humor aufgelockert, der aus den Dialogen ebenso spricht wie aus den Personenbeschreibungen. Von den Honoratioren Husums über Wirtsleute, Bauern und Dienerschaft bis hin zum wunderlichen Stadtoriginal und zum kleinkriminellen Armenhausinsassen werden die Figuren gekonnt und einprägsam skizziert.
Zunächst scheinbar unverbunden mit der Handlung in Husum wird in schlaglichtartigen Rückblicken die Geschichte eines nicht alltäglichen Schiffsuntergangs erzählt, der zum Ausgangspunkt für die nicht auf einen einzigen Mord beschränkten Verbrechen in der Romangegenwart wird. Spreckelsen hat sich dabei, wie er in seinem lesenswerten Nachwort erläutert, von tatsächlichen geschichtlichen Vorgängen inspirieren lassen, dabei aber in der Realität Unverbundenes zu einem großen Ganzen verknüpft. Das Experiment ist weitaus besser geglückt als in vielen anderen Historienkrimis.
Zwar sind die recht kurzen Kapitel manchmal etwas zu gewollt auf einen Spannungshöhepunkt hinkomponiert, aber eine flotte und unterhaltsame Lektüre bis zum hochdramatischen Finale ist dadurch garantiert. Wer Lust auf einen ebenso vergnüglichen wie schaurigen Ausflug in norddeutsche Gefilde hat, sollte dem ermittelnden Storm also unbedingt eine Chance geben.
Tilman Spreckelsen: Das Nordseegrab. Ein Theodor-Storm-Krimi. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch, 2015, 272 Seiten.
ISBN: 978-3-596-19483-4