Bären füttern verboten

In Sydneys Kindheit gab es für die ganze Familie kaum etwas Schöneres als den alljährlichen gemeinsamen Urlaub in St. Ives, doch der Unfalltod ihrer Mutter während des letzten dieser Ferienaufenthalte änderte alles. Jahrzehnte später kehrt Sydney, die inzwischen Zeichnerin ist, aber weit mehr Energie in ihr Hobby als Freerunnerin steckt und es damit ihrer Lebensgefährtin Ruth nicht immer leicht macht, im Rahmen der Arbeit an einer autobiographischen Graphic Novel nach Cornwall zurück und stellt sich den Schuldgefühlen, die sie noch immer umtreiben, weil sie den Tod ihrer Mutter verursacht zu haben meint – eine Sichtweise, die unterschwellig auch ihr Vater Howard teilt, der nie über den Verlust seiner Frau hinweggekommen ist. In St. Ives sorgt ein einschneidendes Ereignis dafür, dass mehrere Einheimische in Kontakt zu Sydney oder zu deren Umfeld geraten: Maria, die in einer lieblosen Ehe mit dem gewalttätigen Künstler Jon festsitzt und ihre eigenen malerischen Ambitionen unterdrückt, ihre von Minderwertigkeitskomplexen geplagte erwachsene Tochter Belle und deren Kollege in der örtlichen Buchhandlung, Dexter, der eigene Geheimnisse mit sich herumträgt. Ob aus all dem Tragischen und Belastenden, das sie verbindet, am Ende doch noch etwas Gutes erwachsen kann?

An Rachel Elliotts Roman Bären füttern verboten (dessen Titel angesichts der eher geringen Bärendichte in Cornwall symbolisch zu verstehen ist) besticht vor allem die Erzählweise. Von klug genutzten wechselnden Perspektiven geprägt, lässt sie auch manch Ungewöhnliches zu, so etwa Passagen aus dem Blickwinkel von Marias Wolfshund oder das wiederholte Eingreifen Toter, bei denen man sich nicht so ganz sicher sein kann, ob sie sich ausschließlich im Traum und in der Phantasie der Lebenden zu Wort melden oder nicht doch noch einen eigenen Willen haben (gerade im zweiten Kapitel aus der Sicht von Marias früh verstorbenem Verlobten Andy muss man Letzteres annehmen). Vergnügen haben kann man auch an weiteren Details, so etwa, wenn Schattenseiten der modernen Welt, von teilweise haarsträubenden Internetkommentaren bis hin zu überzogenen Optimierungsbestrebungen selbst der winzigsten Firmen, durch den Kakao gezogen werden. Zusammen mit den sensiblen Umgebungsschilderungen – Maria hat einen Blick für besondere Steine – und dem nicht nur in der Hundeperspektive mehrfach aufblitzenden Humor könnte das ein rundum schönes Buch ergeben, aber zwei doch recht entscheidende Irritationen sorgen dafür, dass nach der Lektüre eher ein leises Unbehagen zurückbleibt als reine Begeisterung über einen gelungenen Text.

Der vielleicht gewichtigere Punkt hängt mit Elliotts Behandlung queerer Themen zusammen. Die Unverkrampftheit, mit der sie die handelnden Personen sein lässt, wer sie nun einmal sind, ist im Grunde genommen sympathisch. Allerdings kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie bis zu einem gewissen Grade mit zweierlei Maß misst oder die Implikationen einer bestimmten Wendung schlicht nicht bedenkt. Denn während es im Buch neutrale bis positive Resonanz findet, lesbisch oder genderqueer zu sein, wird die Annahme einer jungen Frau, asexuell zu sein, nicht nur von einer älteren und erfahreneren Figur sogleich hinterfragt, sondern stellt sich im weiteren Verlauf der Handlung auch als Fehleinschätzung heraus, die dadurch, sich ein paar Gedanken zu machen und die richtige Person in bisher ungewohnter Aufmachung zu sehen zu bekommen, offenbar mühelos zu korrigieren ist. Natürlich steht es Elliott frei, das Selbstbild einer ihrer Gestalten als bisher falsch zu entlarven, aber ein bisschen stellt sich doch ein schaler Beigeschmack ein, als gäbe es selbst in diesem abweichenden Lebensentwürfen gegenüber sehr offenen Roman eben doch manche Brüche mit den traditionellen Normen, die akzeptierter sind als andere. Denn wie würde man den entsprechenden Handlungsstrang wohl aufnehmen, wenn beispielsweise eine männliche Figur genauso unverblümt gefragt würde, ob sie sich sicher sei, homosexuell zu sein, nur um kurz darauf durch die passende Frau tatsächlich eines Besseren belehrt zu werden?

Der Umgang mit der geschilderten Situation ist aber nicht der einzige Bereich, in dem Bären füttern verboten unbefriedigend bleibt. Stimmig auserzählt sind eigentlich nur Marias Geschichte und, verbunden damit, in Ansätzen auch Howards. Sydney dagegen, die erst als so zentrale Gestalt eingeführt wird, gerät immer mehr ins Hintertreffen, und das vielleicht nicht einmal gezielt, sondern eher so, als hätte sich das Interesse der Autorin schlicht auf andere Figuren verlagert. Zwar gelangt Sydney noch teilweise zur Selbsterkenntnis, wenn ihr klar wird, dass die Wurzel ihrer Probleme gar nicht so sehr das Ringen mit dem Tod ihrer Mutter, sondern viel eher ihr getrübtes Verhältnis zu ihrem überlebenden Vater ist, aber spätestens in der letzten Szene, in der sie auftritt, wird klar, dass sie nicht willens oder vielleicht auch nicht fähig ist, aus ihren Erkenntnissen heraus die nötigen Veränderungen in ihrem Leben vorzunehmen. Vielmehr – so lässt sich ahnen – wird sie wohl weiter nach Dingen gieren, die sie auf dem Weg, auf dem sie nach ihnen sucht, nicht bekommen kann. Welchen Schlussgedanken (So unabhängig und frei) Elliott ihr in den Kopf legt, wirkt vor diesem Hintergrund fast zynisch, denn gerade das wird Sydney wohl niemals sein, und der dadurch nachhallende Misston passt nicht sonderlich gut zu der eher hoffnungsvollen Richtung, in die sich anderes zu entwickeln begonnen hat.

So bleibt einem Bären füttern verboten trotz zahlreicher gelungener Passagen nach der Lektüre vor allem als ein Roman im Gedächtnis, der zwar kein schlechter ist, aber durchaus hätte besser sein können.

Rachel Elliott: Bären füttern verboten. 2. Aufl. Berlin, Insel, 2023, 334 Seiten.
ISBN: 978-3-458-68207-3

 

 


Genre: Roman