Bei Sonnenaufgang

Clara Morrow, unterschätzte Malerin und gute Bekannte von Chief Inspector Armand Gamache, bekommt endlich eine große Einzelausstellung. Doch die Freude währt nicht lange: Am Morgen nach der Vernissage liegt die einst gefürchtete, mittlerweile aber in die Bedeutungslosigkeit abgerutschte Kunstkritikerin Lillian Dyson mit gebrochenem Genick in Claras Garten im beschaulichen Dorf Three Pines. Obwohl Lillian eine auffällige Erscheinung war, will niemand sie auf Claras Party am Vorabend gesehen haben. Schnell stellt sich heraus, dass Lillians Tod kein Unfall, sondern Mord war. Personen, die ein Motiv gehabt haben könnten und zum Tatzeitpunkt vor Ort waren, gibt es mehr als genug, und bald muss Gamache sich auch damit auseinandersetzen, dass Clara selbst mit Lillian mehr zu tun hatte, als irgendjemand ahnen konnte …

Louise Pennys in Kanada angesiedelte Krimis um den klugen und kultivierten Ermittler Armand Gamache heben sich durch ihre feine Charakterzeichnung und die angeschnittenen Themen wohltuend vom Durchschnitt des Genres ab. In dem zuletzt auf Deutsch erschienenen siebten Band Vor Sonnenaufgang ist es das Künstlerdasein mit all seinen Höhen und Tiefen, das ausgelotet wird. Dabei geht es nicht nur um Gemälde und ihre Wirkung, sondern auch um Galeristen, die einerseits zwar den von ihnen Betreuten zu Bekanntheit und Erfolg verhelfen können, sich andererseits aber auch oft über Gebühr an ihnen bereichern oder lieber auf leicht Verkäufliches als auf anspruchsvolle Kunst setzen. Noch zentraler für die geschickt aufgebaute Handlung sind jedoch Neid und Missgunst, die unter Kreativen selbst Freundschaften und intime Beziehungen vergiften können. Dass dies nicht nur für die bildenden Künste, sondern auch für die Literatur gilt, wird an der alten Dichterin Ruth deutlich, die sich trotz all ihrer Marotten als kundige Ratgeberin für Clara in Bezug auf den Umgang mit guten wie schlechten Kritiken erweist.

Die Aufklärung des Mordfalls liest sich zwar spannend, ist aber, wie immer bei Louise Penny, eigentlich nicht das Wesentliche an dem Roman. Vielmehr werden die schon in früheren Bänden eingeführten Figuren behutsam weiterentwickelt, diesmal insbesondere Gamaches Stellvertreter Jean-Guy Beauvoir, der nicht nur einen desaströsen Polizeieinsatz, sondern auch das Scheitern seiner Ehe zu verkraften hat und teilweise gefährliche Mittel wählt, um damit zurechtzukommen. Die Liebesgeschichte, die sich hier – wenn auch zunächst einmal sehr einseitig – für ihn zu entwickeln beginnt, ist sensibel und amüsant geschildert.

Ohnehin ist trotz des Ernsts und der Brutalität bestimmter Handlungsaspekte Louise Pennys unaufdringlicher Humor stets präsent, ob nun in den pointierten Dialogen oder in einzelnen Szenen, die einen aus dem Schmunzeln gar nicht mehr hinauskommen lassen (herrlich ist z.B. eine Passage, in der sich der nicht gerade kunstaffine Beauvoir spontan als Kritiker einer bekannten Zeitung ausgibt – mit ungeahntem Erfolg). Doch noch stärker als von den lustigen Elementen ist Pennys Erzählweise von tiefer Menschlichkeit geprägt. Die Autorin weckt viel Verständnis auch für Fehler und Schwächen und setzt sich immer wieder mit der Frage auseinander, ob und wie viel man vergeben kann. Die Grenzen des Verzeihlichen sind dabei für die einzelnen Romanfiguren unterschiedlich weit gesteckt, und auch aus Lesersicht kann man einige Denkanstöße mitnehmen.

Wer Freude an den früheren Bänden der Reihe hatte, wird diesen aber wohl ohnehin verschlingen, und spätestens ab hier (wenn nicht schon ab dem vorigen Band) empfiehlt es sich auch, die Serie tatsächlich in chronologischer Reihenfolge zu lesen. Zwar ist der Roman prinzipiell in sich abgeschlossen, aber manche Details machen einfach noch mehr Spaß, wenn man das Leben in Three Pines schon länger verfolgt.

Louise Penny: Bei Sonnenaufgang. Der siebte Fall für Gamache. Zürich, Kampa, 2021, 480 Seiten.
ISBN: 978-3-311-12028-5


Genre: Roman