Auf dem Heiligenberg in Heidelberg häufen sich im Sommer 1907 entsetzliche Funde: Immer wieder werden brutal getötete Wildtiere ohne Kopf entdeckt, und es kommt zu Verwüstungen im Wald. Was zunächst wie ein erschreckender, aber irgendwie noch natürlich zu erklärender Fall von Tierquälerei und Vandalismus anmutet, gewinnt eine andere Dimension, als ein Junge aus einer zeltenden Wandervogelgruppe auf die gleiche Weise ermordet wird und immer mehr Zeugen von schattenhaften Riesengestalten berichten, die allnächtlich ihr Unwesen treiben und in irgendeiner Beziehung zum Heidenloch, einer prähistorischen Zisterne, zu stehen scheinen. Eine eilends eingerichtete Untersuchungskommission muss nicht nur den Schutz der Bevölkerung in die Wege leiten, sondern auch eine Erklärung für die Bedrohung finden. Doch die Hintergründe, die sich nach und nach abzeichnen, während es weitere Todesopfer gibt, liegen ein gutes Stück jenseits alles bisher Vorstellbaren.
Martin Schemms Roman Das Heidenloch ist ein origineller Vertreter seiner Gattung: Statt die Geschichte wie in vergleichbaren Büchern gewohnt um eine oder mehrere Hauptfiguren herum zu entwickeln, wird sie in Form einer fiktiven Akte aus so heterogenen Texten wie Sitzungsprotokollen, Zeugenaussagen und Polizeiberichten präsentiert. Eingebettet in die Quellenfiktion, dass hier ein Karlsruher Archivar nur herausgibt, worauf er zufällig im Zuge ganz anderer Arbeiten gestoßen ist, entfaltet sich in Form fiktiver Sachtexte handfester Horror, bei dem es stellenweise so heftig zur Sache geht, dass man vielleicht ganz froh sein kann, dass die drastisch geschilderten Grausamkeiten eben nicht romantypisch Figuren zustoßen, für die man sich emotional bereits stark engagiert hat, denn dann wären die Geschehnisse, die ohnehin nichts für schwache Nerven sind, wohl kaum erträglich (es sei denn, man ist ausgeprägter Splatter-Fan).
Aber das physische Grauen, das die geheimnisvollen nachtaktiven Riesen verbreiten, ist interessanterweise nicht der einzige verstörende Aspekt an ihnen, den Martin Schemm auslotet, auch wenn sie bestens dazu geeignet sind, sämtliche Urängste davor wachzurufen, zur Beute eines menschenfressenden Wesens zu werden und in der Dunkelheit hilflos unbekannten Gefahren ausgeliefert zu sein. Bemerkenswerter ist an ihnen eigentlich, dass sie weder in das im frühen zwanzigsten Jahrhundert schon ausgeprägte naturwissenschaftliche Weltbild noch in die christliche Religiosität der Zeit passen. Ihr Ursprung setzt eine völlig andere Sichtweise voraus, nämlich – ohne hier zu viel vorwegzunehmen – eine der Antike entstammende. So ist es folgerichtig (und durchaus sympathisch), dass es am Ende Geisteswissenschaftler sind, die der Lösung des Rätsels auf die Spur kommen. Doch etwas, das so unglaublich ist, dass es aus gewohnter Perspektive betrachtet gar nicht sein kann, darf eben auch nicht sein. Dementsprechend ist es kein Wunder, dass nicht nur die Behörden auf die Unterdrückung von Nachrichten über die Vorgänge (und später wohl auch auf eine vorläufige Unauffindbarkeit der Akte) hinarbeiten, sondern auch die unmittelbar vom Grauen Betroffenen sehr schnell darauf bedacht sind, zu verdrängen und zu verschweigen, was sich abgespielt hat.
Daran, ob diese allseits mangelnde Bereitschaft, die Wahrheit aufzuarbeiten, weil sie dem gewohnten eigenen Blickwinkel zuwiderläuft, die bestmögliche Haltung ist, weckt allerdings der Epilog erhebliche Zweifel, und auf eine Nachtwanderung in Heidelberg hat man wahrscheinlich nach der Lektüre des Buchs nicht mehr allzu große Lust, denn gerade durch die scheinbar dokumentarische Erzählweise wirkt der Grusel recht real. Dazu tragen sicher auch die stilistisch an alte Fotos angelehnten Illustrationen von Michael Schug bei, ebenso wie die beigegebene Karte und der abgedruckte Merian-Stich des Heiligenbergs, die beide die Einbindung der Geschichte in die tatsächlich existierende Topographie unterstreichen. Ein schauriges Leseerlebnis also, wenn auch hier und da mit einem kleinen Schuss Humor (so darf sich kurz ein englisches Touristenpaar, das sich an einer sehr notwendigen Absperrung stört, über deutsche militaristische Willkür echauffieren), aber auch ein clever geschriebener Roman, der deutlich macht, wie sich eine ungewöhnliche Erzähltechnik effektvoll einsetzen lässt.
Martin Schemm: Das Heidenloch. Ein fantastisch-mythologischer Roman. 2. Aufl. Ubstadt-Weiher, Verlag Regionalkultur, 2001 (Schriftenreihe des Stadtarchivs Heidelberg: Sonderveröffentlichung 11), 160 Seiten.
ISBN: 3-89735-165-X