Die 13 Gezeichneten

Die Stadt Sygna hat schon bessere Zeiten erlebt. Lange Jahre haben hier traditionsbewusste Handwerkerzünfte geherrscht, deren Mitglieder ihre Kenntnisse magischer Zeichen eifersüchtig hüten, doch seit die Aquintianer als Besatzungsmacht das Ruder übernommen haben, weht ein anderer Wind. Wie viele andere ist der professionelle Gerichtskämpfer Dawyd damit unzufrieden, findet aber noch mit Müh und Not sein Auskommen, bis er sich durch seine eigene Impulsivität in eine Situation bringt, in der ihm keine andere Wahl mehr bleibt, als sich einer kleinen Rebellentruppe anzuschließen. So ist er nicht ganz freiwillig mit dabei, als seine neuen Bekannten den Versuch unternehmen, einen Dichter aus den Fängen der aquintianischen Geheimpolizei zu retten. Doch deren Leiter, der berüchtigte Lysandre Rufin, ist verdächtig gut über die Rebellen informiert, und so verläuft bald nicht mehr alles nach Plan, ganz zu schweigen davon, dass beide Konfliktparteien in den Kavernen unter der Stadt eine Entdeckung machen, die ungeahnte Konsequenzen haben könnte …

Judith und Christian Vogt haben schon zahlreiche Werke gemeinsam verfasst, aber der Roman Die 13 Gezeichneten ist mit Sicherheit eines ihrer besten. Das liegt nicht allein an der Handlung mit Pageturnerqualitäten, die neben packenden und gelegentlich recht blutigen Actionszenen auch immer wieder neue Wendungen und Überraschungen zu bieten hat (bis hin zum vermeintlichen Finale, das sich trotz aller atemlosen Spannung nur als Vorlauf zum eigentlichen und noch einmal abenteuerlicheren Schluss entpuppt).Vielmehr greifen die „Vögte“ auch auf ungewöhnliche, aber äußerst effektive Erzähltechniken zurück, wie etwa, wenn die Rebellen in ein Theater, das ein Geheimnis birgt, eindringen wollen und die Planung der Aktion geschickt verschränkt mit der Ausführung geschildert wird.

Eine weitere große Stärke des Buchs sind die detailreich ausgearbeiteten Charaktere, die alle ihre Geheimnisse voreinander und vor dem Lesepublikum haben, ob nun der bei Folterungen verstümmelte ehemalige Tischler Ignaz, der den kleinen Rebellentrupp anführt, seine rechte Hand, die taktisch brillante, aber von einem harten Frauenleben geprägte Schmiedin Elisabeda, das nach außen hin freche und gerissene, aber heimlich nach einer Wahlfamilie suchende Straßenmädchen Jendra, der trotz einer Spitzelvergangenheit etwas naive Müllerbursche Neigel oder immer wieder auch der schurkische Rufin, der sich sehr gut bewusst ist, dass er moralisch Verwerfliches tut, sich aber unverdrossen weiter an seiner eigenen Schläue und seinen immer dreisteren Manipulationen ergötzt.

Besonders viel Spaß macht es, wie bei einigen Figuren Klischees anzitiert und dann genüsslich auf den Kopf gestellt werden, sei es nun bei dem jungen Dichter Ismayl, dessen unglückliche Liebe zu der diskret mit dem Widerstand kooperierenden höheren Tochter Kilianna, die sich weder von schönen Worten noch von schönen Augen übermäßig beeindrucken lässt, wohl fast schon als Berufsrisiko zählen muss, oder noch stärker im Fall von Dawyd, der eine sehr amüsante Dekonstruktion des klassischen kämpferischen Auserwählten auf Weltrettungsmission ist. Stilecht kommt er im Laufe des Romans zu besonderen magischen Fähigkeiten und einem ganz speziellen Schwert, aber das ändert wenig an seinem Leichtsinn und seiner phänomenalen Eitelkeit, die ihn im Gegenzug für seinen Einsatz für die Stadt in aller Bescheidenheit mindestens einen Orden erwarten lässt.

Ohnehin wird auch sehr hübsch mit den typischen Handlungsmustern eines epischen Fantasyromans gespielt. Natürlich gilt es für die zusammengewürfelte kleine Truppe, eine  zwischenzeitlich aus der Welt verschwundene Magie wiederzugewinnen, aber ein Allheilmittel ist diese nicht (im Gegenteil), und wenn es wirklich um eine Rückkehr in eine gute alte Zeit ginge, wäre das hier kein Buch von Judith und Christian Vogt. Die einstige Zunftherrschaft wird nicht glorifiziert, sondern mit all ihren Restriktionen und Schattenseiten (wie etwa dem überwiegenden Ausschluss von Frauen oder der Gefahr, zu geizig geteiltes Wissen ganz zu verlieren), gegen die sich schon vor dem Erscheinen der Aquintianer Widerstand formierte, gezeigt, und ein Grundthema des Romans ist die Notwendigkeit der Erneuerung und des Blicks nach vorn.

Dazu passt sehr gut, dass die Geschichte nicht in einem typischen Fantasymittelalter spielt, sondern in einer frühneuzeitlich anmutenden Epoche, die bereits aufklärerische Ideale kennt und sich in einer frühen Phase der Industrialisierung befindet, hier in der Form, das mit fragwürdigen Mitteln versucht wird, die Zeichenmagie in Manufakturen nutzbar zu machen. Ereignishistorisch spielt sich gerade ein Äquivalent zu den napoleonischen Kriegen ab (so ist auch der aquintianische Kaiser Yulian einst mit revolutionären Plänen angetreten, bevor er sich aufs Erobern verlegt hat und sich nun einer gegnerischen Allianz gegenübersieht). In den Grundzügen ist die Situation in Sygna also vielleicht in etwa mit der in einer Freien Reichsstadt unter französischer Besetzung vergleichbar, und auch aus anderen Details sprechen historische Kenntnisse und gründliche Recherche, zum Beispiel aus den wiederholten Anspielungen auf spätmittelalterliche Fechtbücher und (wie auch schon in Im Schatten der Esse) aus dem liebevoll eingeflochtenen Detailwissen zum Schmiedehandwerk. Ein gewisser Realismus zeigt sich aber auch in anderen Einzelheiten: Sämtliche Rebellen haben neben ihrem Bemühen um die Sache auch noch private Interessen, durch die sie angreifbar werden, und ein Aufstand ist hier nicht so leicht durchzuführen und zu lenken wie in manch anderem Buch; ein wütender Mob hat eben manchmal andere Prioritäten als die Leute, die ihn losgelassen haben.

Gerade in Bezug auf diese differenzierte Sicht tut es der Geschichte gut, dass es sich nicht um einen Einzelroman, sondern um den Auftaktband einer Trilogie handelt. So bleibt viel Platz, unterschiedliche Aspekte ausführlich auszuloten, ohne dass jedoch jemals Gemächlichkeit oder gar Langeweile aufkommen würde. Mitreißend bis zum Schluss machen Die 13 Gezeichneten viel Lust auf die Folgebände.

Judith und Christan Vogt: Die 13 Gezeichneten. Köln, Bastei Lübbe, 2018, 592 Seiten.
ISBN: 978-3-404-20892-0


Genre: Roman