Die Brücke zwischen den Welten

Hamburg 1906. Als Hans Körner durch die Missgunst eines Vorgesetzten seine Arbeit in einem angesehenen Teppichgeschäft verliert, scheint seine Zukunft düster auszusehen. Doch bei dem Versuch, seinen Kummer zu ertränken, begegnet er einem Mann, der ihm zum Verwechseln ähnelt. Ludwig Brehm, ein abenteuerlustiger Sohn aus gutem Hause, hat eine Stelle bei den Teppichhändlern Ihmsen und Witt in Konstantinopel in Aussicht, aber eigentlich ganz andere Pläne. Spontan tauschen die beiden Doppelgänger die Namen und die Plätze, und Hans reist als Ludwig ins Osmanische Reich. Unter den Auslandseuropäern der pulsierenden Vielvölkermetropole führt er bald ein Leben, das er sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können, doch die Angst vor Entdeckung bleibt. Aber er ist nicht der Einzige, der Geheimnisse hat: Edie Witt, die Ehefrau eines der Firmeninhaber, probt still und heimlich den Aufstand gegen die restriktiven Rollenerwartungen an Damen der Gesellschaft, während die junge Milena, bei der „Ludwig“ Französischunterricht nimmt, der düsteren Vergangenheit ihrer russischen Familie nachspürt und sich dabei auf den windigen Maler Sergej einlässt, der ganz eigene Ziele verfolgt …

Die Brücke zwischen den Welten ist wieder einmal ein üppiger historischer Roman von Petra Oelker, der vor allem durch die gelungenen Figuren und die Schilderung der farbenprächtigen Kulisse am Bosporus besticht. Der Blick auf eine multikulturelle Stadt mit all ihren Chancen, aber auch all ihrem Konfliktpotential in politisch unruhigen Zeiten, die schon das allmähliche Nahen des Ersten Weltkriegs erahnen lassen, lädt dabei durchaus auch zu Vergleichen mit der Gegenwart ein. Ein umfangreiches Glossar, das neben Begriffen und Ortsnamen auch die in Nebenrollen auftretenden realen Persönlichkeiten enthält, trägt zum Verständnis der geschichtlichen Hintergründe bei.

Geschickt gelöst ist der Spannungsaufbau, denn was trotz der Hochstapelei als Ausgangssituation zunächst als recht ruhiger Gesellschaftsroman beginnt, gewinnt im weiteren Verlauf Züge einer Abenteuer- und Spionagegeschichte mit dramatischem Showdown. Bei allem Schwelgen in der Schönheit des Handlungsorts und einzelner Gegenstände – vom Orientteppich bis zur Heiligenikone – bleiben jedoch auch die Schattenseiten der Epoche nicht ausgespart. Die im frühen 20. Jahrhundert nicht nur in der Türkei noch sehr autoritäre Herrschaftsweise, die für Dissidenten keinen Platz lässt, tangiert das Leben der Protagonisten ebenso wie eine Fülle fremden- und frauenfeindlicher Vorurteile, die selbst innerhalb von Familien für Unfrieden sorgen können. Teilweise begegnen einem dabei Figurentypen, auf die Petra Oelker in ihrem Werk immer wieder gern zurückgreift. So ist z.B. die hier durch Edie Witt vertretene Kaufmannsgattin, die unter den Beschränkungen ihrer Rolle leidet und sich nicht nur nach größeren Freiheiten, sondern auch nach stärkerer geistiger Betätigung sehnt, eine wiederkehrende Gestalt in den Romanen der Autorin, aber durchaus immer wieder mit individuellen Zügen interpretiert.

Während Figurenensemble, Beschreibungen und große Teile der Handlung zu überzeugen wissen, fällt leider das Ende nach der abschließenden Konfrontation mit dem Schurken des Romans eher schwach aus und wirkt allzu offen. Vieles, was in den unterschiedlichen Handlungssträngen aufgebaut worden ist, bleibt so in der Luft hängen, als fehlte hier eigentlich noch eine Fortsetzung, und der Epilog, der das sehr veränderte Istanbul nach dem Ersten Weltkrieg in den Blick nimmt, verschärft das Problem eher, als es zu lösen. Beinahe hat man den Eindruck, dass Petra Oelker hier selbst keinen konkreten Plan hatte, wohin sie mit einigen ihrer Protagonisten eigentlich wollte, und deshalb lieber die Phantasie ihrer Leserinnen und Leser für sich arbeiten lässt, statt über im Vagen verbleibende Andeutungen hinauszugehen.

Abgesehen von diesem Verzicht auf einen befriedigenden Abschluss bietet Die Brücke zwischen den Welten jedoch unterhaltsame Lektüre für alle Fans historischer Romane, auch wenn sie nicht ganz an Petra Oelkers beste Werke (wie z.B. Emmas Reise) herankommt.

Petra Oelker: Die Brücke zwischen den Welten. Hamburg, Wunderlich (Rowohlt), 2018, 494 Seiten.
ISBN: 978-3805200271


Genre: Roman