Als aus dem Stift Walbeck eine wertvolle Reliquie entwendet wird, sind die Hintergründe zunächst rätselhaft und die flüchtigen Täter nicht einzuholen. Der junge Graf Friedrich von Walbeck und der Kanoniker Pater Thangmar übernehmen die Nachforschungen und müssen bald feststellen, dass sie es nicht mit einem alltäglichen Raub zu tun haben, denn im ganzen Landstrich geht Seltsames vor: Man glaubt eine Geistermesse und das Umgehen Untoter beobachtet zu haben, heimliche Bußpredigten unter ungewöhnlichen Umständen versetzen die Bevölkerung in Angst und Schrecken, und bald kommt es sogar zu grausigen Morden. Ein Vorzeichen des vielleicht mit dem Jahr 1000 drohenden Weltuntergangs oder doch nur Menschenwerk? Selbst als sich ein erster Hinweis auf die Schuldigen ergibt, bleiben diese Friedrich und Thangmar immer einen Schritt voraus, ganz abgesehen davon, dass die Ermittler es auch miteinander nicht leicht haben, ist der Geistliche doch schockiert, als er dahinterkommt, dass Friedrich ausgerechnet in die Verlobte seines älteren Bruders verliebt ist. Doch trotz aller Uneinigkeit in Sachen Sünde und Wohlverhalten müssen sich die beiden auf ihrer Reliquienjagd zusammenraufen und am Ende eine gefährliche Reise antreten, die sie bis nach Italien führt, und erkennen erst viel zu spät, dass selbst dort, wo niemand ihn vermutet, ein Verräter lauern kann …
Wie es für die historischen Romane von Martin Schemm typisch ist, kombinieren auch Die letzten Erdentage gut recherchierte und packend in die Handlung eingeflochtene reale Ereignisse mit fiktiven Geschehnissen. Letztere enthalten allerdings in diesem Fall keine Fantasyelemente (was man in einigen Momenten fast bedauert – die eindringlich geschilderte Geistermesse etwa wäre sicher auch grandios geworden, wenn sie sich als echt entpuppt hätte), sondern lassen eine Bande religiöser Fanatiker mit ungeahnten Verbindungen bis in die höchsten Kreise ihr Unwesen zur Zeit Ottos III. treiben, dessen Romzug zur Absetzung des Gegenpapstes Johannes‘ XVI. eine entscheidende Rolle spielt. Ist das grausige Schicksal des glücklosen Pontifex erschütternd, gibt es durchaus auch eher amüsante Aspekte beim Einsatz des historischen Materials, etwa bei der Schilderung der Umtriebe des undurchsichtigen Erzbischofs Giselher von Magdeburg, den trotz seines beträchtlichen Alters weder ein Slawenangriff noch ein Schlaganfall dauerhaft aufhalten kann. Was die Bösewichter angeht, mag ihr Treiben an sich zwar nur für den Roman erdacht sein, nutzt aber die tatsächlich überlieferte Glaubensvorstellung aus, die Propheten Elias und Henoch seien lebendig in den Himmel entrückt worden und würden in der Endzeit auf die Erde zurückkehren, um zu predigen.
Diese Mischung aus Realität und Fiktion setzt sich auf der Figurenebene fort, denn während der fromme, aber kulinarischen Genüssen durchaus nicht abgeneigte Thangmar erfunden ist, handelt es sich bei Friedrich um eine historische Gestalt, wenn auch mit Thietmar von Merseburg heutzutage ein anderes Mitglied der Familie der Walbecker Grafen einen deutlich höheren Bekanntheitsgrad genießt. Was man über sein Leben weiß, ist klug mit den ausgedachten Ereignissen verknüpft, bei denen man in manchem Fall dem historischen Friedrich wünscht, er möge sie nicht unbekannterweise so oder so ähnlich gehabt haben. Denn die Schurken gehen selbst für die Verhältnisse einer oft brutalen Zeit nicht gerade zimperlich zu Werke, wenn sie handfest in die Tat umsetzen, was sie für Gottes Willen halten. So kommt es früh zu einigen bizarren Leichenfunden und im weiteren Verlauf, in dem sich das Tempo und die Gefahr für die Protagonisten noch einmal steigern, auch zu einer nicht gerade pfleglichen Behandlung der Helden selbst.
Es darf also immer wieder kräftig mitgefiebert und mitgebangt werden, aber besonders wirkt der Roman durch seine sehr schönen und atmosphärischen Umgebungsbeschreibungen, die nicht nur die Natur- und Kulturlandschaften im Harzvorland, sondern auch eine winterliche Alpenüberquerung und das mittelalterliche Rom mit seinen teilweise weitergenutzten Ruinen (in denen hier selbstverständlich nichts Gutes lauert) greifbar heraufbeschwören. Sich durch diese Schilderungen in die fremde, aber in manchen allgemeinmenschlichen Zügen dann doch wieder vertraute Welt des späten 10. Jahrhunderts versetzen zu lassen, macht viel Vergnügen. Es lohnt sich also durchaus, sich auf die Suche nach dem leider nur noch antiquarisch erhältlichen Buch zu machen, um eine spannende Zeitreise zu unternehmen.
Martin Schemm: Die letzten Erdentage. Historischer Roman aus der Zeit Kaiser Ottos III, o.O., ost-nordost, 2016, 296 Seiten.
ISBN: 978-3-938247-23-5