Eigentlich ist Armand Gamache, Leiter der Mordkommission von Québec, mit seiner Frau Reine-Marie rein privat in Paris: Seine Tochter Annie, die mit Schwiegersohn Jean-Guy Beauvoir kürzlich nach Frankreich gezogen ist, erwartet demnächst ihr zweites Kind, und auch sein Sohn Daniel und dessen Familie leben in der Stadt. Doch das Idyll des familiären Beisammenseins wird jäh getrübt, als Gamaches schwerreicher Patenonkel Stephen Horowitz, der sich ebenfalls gerade in Paris aufhält, nach einem gemeinsamen Essen im Restaurant angefahren wird und lebensgefährlich verletzt im Krankenhaus landet. Was auf den ersten Blick nach einem Unfall mit Fahrerflucht aussehen könnte, war, wie Gamache vermutet, Absicht, und da Stephen ihm gegenüber vage Andeutungen über kriminelle Machenschaften gemacht hat, denen er auf der Spur war, gilt es, schnell herauszufinden, wer ihm nach dem Leben trachtet. Der Pariser Polizeichef Claude Dussault, ein alter Bekannter von Gamache, könnte dabei der ideale Verbündete sein. Doch spätestens, als in Stephens Wohnung die Leiche eines Fremden gefunden wird, muss Gamache sich der unbequemen Wahrheit stellen, dass Dussault nicht mit offenen Karten spielt – ganz zu schweigen davon, dass auch sein eigener Sohn Daniel anscheinend etwas zu verbergen hat …
Die Reise nach Paris ist der 16. Band von Louise Pennys erfolgreicher Krimireihe um Armand Gamache und vereint die problematischsten Züge der Geschichten um den integren Polizisten, der mit allen Mitteln für das Gute kämpft, leider nur mit einigen der besten. Liebevoll beschriebene Handlungsorte, zahlreiche Anspielungen auf Literatur, Kunst und Kultur, differenziert gezeichnete Figuren und ein spannender, wendungsreicher Plot sind hier wie immer vorhanden, aber – und das ist ein gewichtiger Nachteil – Gamache muss wieder einmal nicht nur einen Mord und einen Mordversuch aufklären, sondern gleich die Welt retten (in diesem Fall sogar fast wortwörtlich), und das actionreiche Finale, das natürlich nicht ohne Lebensgefahr für Gamache und einige seiner Lieben auskommt, ist überzogener denn je.
Die Kulisse aus Vorstandsetagen, Luxushotels, Nobelkaufhäusern und edlen Restaurants, in der sich Gamache auf seiner Reise nach Paris bewegt, macht leider auch wesentlich weniger Spaß als das sonst im Zentrum stehende Three Pines mit seinem Dorfbistro und seinen exzentrischen, aber doch größtenteils bodenständigen und liebenswerten Charakteren, die hier nur ganz gegen Ende noch einen kleinen Auftritt haben. Zwar wird endlich der in den vorherigen Bänden schon immer angedeutete Vater-Sohn-Konflikt zwischen Armand und Daniel näher erläutert, aber die gewählte Auflösung ist dann eben auch eine überdramatische, die recht gut zeigt, woran die Reihe inzwischen krankt: Nachdem Penny schon früher einige Male Tragweite des jeweiligen Falls und persönliches Risiko für ihre Hauptfiguren sehr hoch angesetzt hat, glaubt sie mittlerweile offensichtlich, sich diesbezüglich immer wieder übertreffen zu müssen. So berechtigt die zugrundeliegende Kritik am oft auch in der realen Welt skrupellosen Verhalten von Machtmenschen in Entscheidungspositionen in Unternehmen oder Behörden auch sein mag, es hätte der Handlung vielleicht gut getan, das Thema in etwas kleinerem Maßstab auszuloten, als es hier geschieht.
Ohne Unterhaltungswert ist Die Reise nach Paris dennoch nicht, und für ein deutsches Publikum ist es wahrscheinlich wesentlich komischer als für ein englischsprachiges, dass ein geheimnisvoller Duft, der den entscheidenden Hinweis auf die Identität eines Verdächtigen gibt, sich ausgerechnet als 4711 entpuppt. Insgesamt aber hält man vor allem deshalb bis zum Ende des Bandes durch, weil man die Figuren im bisherigen Verlauf der Reihe liebgewonnen hat und ihre Geschichte darum auch dann weiterverfolgt, wenn der Plot viel zu sehr auf Superheldenformat angelegt ist.
Louise Penny: Die Reise nach Paris. Der 16. Fall für Gamache. Zürich, Kampa, 2023, 558 Seiten.
ISBN: 978-3-311-12050-6