Der Beginn der Corona-Pandemie in Frankreich stellt das Leben in der Provence gerade gehörig auf den Kopf, als Capitaine Roger Blanc es mit einer Vermisstenmeldung zu tun bekommt: Laetitia Fabre, die Freundin seines Untergebenen Yves-Laurent Sylvain ist verschwunden, allerdings nicht spurlos, wie sich bald herausstellt. In der Nähe eines seit langer Zeit nicht mehr genutzten, teilweise eingestürzten Kanaltunnels werden ihr Fahrrad und ihr linker Schuh gefunden. Das weckt Erinnerungen an ein ungeklärtes Verbrechen, das vor über zwanzig Jahren die Region in Atem hielt: Damals verschwanden in rascher Folge vier junge Frauen, von denen jeweils nichts als ein linker Schuh wieder auftauchte. Hat etwa der nie gefasste Serienkiller nach langer Pause erneut zugeschlagen? Dass einer der damaligen Verdächtigen sich am Kanal zu schaffen macht, passt fast schon zu gut zu dieser Theorie, und mit dem geheimnisvollen Obdachlosen Hervé Guérini tritt bald ein weiterer Mensch mit Verbindungen zu den damaligen Verbrechen auf den Plan. Doch auch Laetitias Familie verhält sich eigenartig, und sogar Sylvain scheint nicht die ganze Wahrheit zu sagen. So dauert es nicht lange, bis eine äußerst unschöne Vermutung im Raum steht …
Geheimnisvolle Garrigue bietet das, was man von Cay Rademachers Provence-Krimis gewohnt ist: Spannende Ermittlungen vor einer kenntnisreich und mit viel Liebe zu Land und Leuten geschilderten Kulisse. Eines ist aber diesmal anders als sonst, denn die Corona-Pandemie ist mit ihrem anfänglichen Maskenmangel und den vielen Fehlinformationen, die in dieser frühen Phase noch im Umlauf sind, nicht nur Beiwerk der Geschichte, sondern übt durch den in Frankreich weitaus strenger als in Deutschland mit echten Ausgangssperren durchgesetzten Lockdown beträchtlichen Einfluss aufs Geschehen aus. Einerseits sind viele Menschen plötzlich in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, andererseits haben aber diejenigen, die sich am Rande der Gesellschaft (oder ganz außerhalb von Recht und Gesetz) bewegen, plötzlich neue Spielräume. Insbesondere in der Garrigue, der wilden provenzalischen Heidelandschaft, kann man nun plötzlich sehr lange unentdeckt bleiben, und das wird natürlich ausgenutzt, birgt aber auch Gefahren, wie das dramatische Finale beweist.
Das Lektorat hätte bei einzelnen Details gründlicher sein können (heißt Guérinis verstorbene Frau nun Marie oder Christine?), und ein großes Fragezeichen bleibt auch hinsichtlich der alten Mordserie. Wenn der Täter damals innerhalb weniger Wochen immer wieder an derselben Stelle einen Schuh seines jeweiligen Opfers hinterließ, warum ist die Polizei offenbar damals nicht darauf gekommen, den Kanal in der Nähe des Tunneleingangs lückenlos observieren zu lassen (wie Blanc es in der Romangegenwart dann tatsächlich anordnet)? Hier wünscht man sich dann doch einen etwas zwingenderen Grund für das Scheitern der damaligen Ermittlungen als den, dass die Handlung es eben erfordert.
Sieht man darüber aber hinweg, wird einem ein packender Roman geboten, der einige unerwartete Wendungen bereithält und sich dadurch, dass einer der Polizisten selbst unter Verdacht gerät und dass die Verbrechen in der Vergangenheit mindestens ebenso wichtig sind wie der in der Gegenwart zu lösende Fall, vom Handlungsmuster eines Durchschnittskrimis abhebt. Auch unabhängig davon werden alle Südfrankreichfans sicher ihre Freude daran haben, die detailliert geschilderten Orte literarisch aufzusuchen, worauf man sich bei einem von ihnen auch tunlichst beschränken sollte – denn von einem realen Besuch des unheimlichen Kanaltunnels rät Cay Rademacher in seiner Nachbemerkung (verständlicherweise) ab.
Cay Rademacher: Geheimnisvolle Garrigue. Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc. Köln, Dumont, 2022, 430 Seiten. 978-3-8321-8186-4