Gerechtigkeit

In einem schon lange ungenutzten Nebengebäude eines heruntergekommenen Bauernhofs finden die neuen Eigentümer das Skelett einer Frau, die offenbar gewaltsam ums Leben gekommen ist. Kommissar Falin, der tief im Umzugsstress steckt und eigentlich genug mit privaten Sorgen zu tun hat, nimmt die Ermittlungen auf. Doch wie soll man einen Mord aufklären, bei dem nicht einmal die Identität des Opfers festzustellen ist? Keine Vermisstenmeldung scheint auf die Tote zu passen, und die Vorbesitzerin des Hofs, die enigmatische Jolin, weiß angeblich von nichts. Aber was hat es mit der Vergangenheit ihrer Familie auf sich, von der nur noch sie übrig ist? Welche Rolle spielt Falins neue Nachbarin, und was hat der alte Pfarrer zu verbergen? Hat hier vielleicht sogar der Serienkiller zugeschlagen, auf dessen Konto mehrere Frauenmorde gehen, den Falin aber nie fassen konnte? Stück für Stück enthüllt sich eine Geschichte, die weit grausiger ist als alles, womit selbst ein erfahrener Polizist wie Falin zu Anfang rechnen konnte.

Gerechtigkeit von Christian Wagnon ist ein ebenso spannender wie düsterer Roman, denn es geht hinab in menschliche Abgründe, mit denen man im realen Leben um keinen Preis konfrontiert werden möchte. Die Auflösung der Geschichte ist wirklich nichts für schwache Nerven, aber was den Weg dorthin originell macht, ist, dass es sich, anders als in vielen Krimis, nicht um ein frisches Verbrechen handelt, sondern um eine Tat, die schon vor Jahren begangen worden ist, so dass Falin einigen Personen, die damit in Zusammenhang stehen könnten, gar nicht mehr direkt begegnen kann, sondern sie nur gefiltert durch die Schilderungen Dritter zu erahnen vermag. Da aus wechselnden Perspektiven erzählt wird, ist aus Lesersicht bald klar, dass so manche Figur – darunter sogar der Dorfpolizist Bjarne – dem Kommissar nicht gleich die ganze Wahrheit sagt. Dementsprechend sorgt auch die Frage für Spannung, ob und wie Falin zwischen Kneipe, Reiterhof, Knicks und Fleeten (und bei einem kleinen Abstecher ins Ausland) noch auf die lohnenden Verdachtsmomente stoßen wird, von denen man vor ihm erfährt.

Die große Stärke des Buchs sind die atmosphärischen Beschreibungen einer ländlichen Region irgendwo in Norddeutschland, in der bis auf den Neuankömmling Falin jeder jeden kennt und doch alle ihre Geheimnisse haben, obwohl mit Wonne unbelegbare Gerüchte über eine angeblich mit einem Landarbeiter von außerhalb durchgebrannte Bäuerin und einen sehr plötzlich ins Heim abgeschobenen geistig Behinderten weitergetratscht werden. Das oft trübe Märzwetter, die Albträume, die nicht nur Falin heimsuchen, die schaurigen Zeichnungen, die Jolin in jungen Jahren anfertigte, und die in den passenden Situationen auftauchenden, mit abergläubischen Vorstellungen assoziierten Krähen tun ein Übriges, für eine beklemmende Stimmung zu sorgen. Doch die provinzielle Gegend, in der man auf Nachbarschaftshilfe angewiesen ist, hat auch abgesehen von gutem Eintopf und landschaftlicher Schönheit ihre Vorteile: Wenn jemand ins Reden kommt, den man eigentlich nur zur Behebung eines Sturmschadens ins Haus bestellt hat, kann man als Polizist dann doch mehr erfahren als bei offiziellen Befragungen …

Wie auch in seinem neueren Werk Balmsund: Fegefeuer gelingt es Christian Wagnon, Charaktere mit Ecken und Kanten und den Mikrokosmos, in dem sie sich bewegen, einprägsam zu schildern. Dabei nimmt er sich Zeit, den Fall Schicht um Schicht zu entwickeln. Auch als schon geklärt ist, wer das Skelett im Schuppen einmal war, und ein Geständnis vorliegt, folgen noch einige unerwartete (und zum Teil ziemlich schockierende) Wendungen. Am Ende steht fest, was sich vor Jahren Schreckliches abgespielt hat, doch inwieweit durch irdische oder höhere Instanzen tatsächlich die titelgebende Gerechtigkeit geübt worden ist, bleibt wohl eine Ermessensfrage. Für Falin allerdings, in dessen Leben sich einschneidende Veränderungen ergeben haben, hat an seinem neuen Wohnort alles gerade erst begonnen, und genügend Anknüpfungspunkte für eine Fortsetzung sind unbestreitbar vorhanden. Es könnte also in möglichen Folgebänden noch aufregend weitergehen.

Christian Wagnon: Gerechtigkeit. Die Tote im Schuppen. Dresden 2020. E-Book (über Amazon zu beziehen).
ASIN: ‎ B087Q956Z8

 


Genre: Roman