Eine Krebsdiagnose wirft das beschauliche Leben der alternden Anna am Rande der Schwäbischen Alb gehörig aus der Bahn. Da sie nicht weiß, ob sie die Erkrankung überleben wird, beschließt sie, endlich reinen Tisch zu machen und ihrem langjährigen Brieffreund, dem samischen Rentierzüchter Petter, zu gestehen, dass sie ihn über entscheidende Dinge belogen hat. Nach Nordschweden bringen soll den Brief Annas Nichte Frederike, die bei ihrer Tante aufgewachsen ist und sich gerade, frisch vom untreuen Mann getrennt, einen ausgedehnten Urlaub am Mittelmeer gönnt. Frederike ist von Annas Ansinnen zunächst gar nicht begeistert, lässt sich dann aber doch überreden. Annas Brief enthält eine dramatische Enthüllung, die auch Frederike selbst betrifft, und als Petter sie nach der Lektüre des Schreibens überstürzt allein lässt, ist sie plötzlich fern der Zivilisation ganz auf sich gestellt …
Der Roman Helle Tage, helle Nächte überzeugt vor allem in den Passagen, in denen Hiltrud Baier ihr Talent für die atmosphärische Schilderung der Handlungsorte und insbesondere der Natur in Lappland ausspielt. Mitternachtssonne, allumfassende Stille, karge Landschaften, aber auch das Dorf- und Kleinstadtleben in Süddeutschland werden liebevoll heraufbeschworen und stehen einem greifbar vor Augen. Man wünscht sich nur, in dieser intensiv beschriebenen Kulisse würde sich eine bessere Geschichte abspielen.
Dabei ist die Grundidee, Annas und Frederikes kontrastierende Erlebnisse parallel zu erzählen, eigentlich ganz reizvoll: Während Frederike, die immer Menschen und Trubel um sich herum gebraucht hat, in der Einsamkeit des hohen Nordens ganz allmählich zu sich selbst findet und manche Sorgen und Probleme anders zu bewerten beginnt, lernt Anna, die sich größtenteils als Einzelkämpferin durchs Leben geschlagen und andere Leute oft auf Distanz gehalten hat, dank ihrer quirligen Großnichte Paula und netter Nachbarn, dass auch sie auf Familie und Freundschaft nicht verzichten kann und Nähe zulassen muss.
Leider wirken Entwicklung und Erfahrungen der Figuren oft nicht bis ins Letzte schlüssig. Mehrfach hat man den Eindruck, dass die Glaubwürdigkeit sich dem angestrebten Handlungsverlauf unterordnen muss. Insbesondere die Kindheitserinnerungen beider Protagonistinnen scheinen sehr selektiv zu funktionieren und häufig komplett verdrängt zu sein, um sich dann just zum passenden Zeitpunkt wieder zu regen. Aber das beste Gedächtnis hat in diesem Roman ohnehin niemand: Wenn ein Hubschrauberpilot, der Frederike von Petters entlegenem Wohnsitz abholen soll, das nicht ohne nähere Erklärung schlicht vergessen würde, könnte sie wohl gar nicht so viel Zeit in der Wildnis zubringen, wie die Geschichte es erfordert.
Auch die Romanze, die sich für Frederike ergibt, wirkt – anders als die schüchterne Annäherung zwischen Anna und ihrem Nachbarn Karl – nicht unbedingt ausgefeilt, sondern eher so, als ob eben auch für die jüngere der beiden Heldinnen noch ein neuer Partner hermuss und darum im Rekordtempo bei ihr zum Zuge kommen darf. Gelungener dagegen ist das, was sich auf Nebenschauplätzen abspielt: Wenn das Verhalten von spielenden Kindern oder von Passanten in der Stadt beobachtet wird, wirkt das lebensecht und vergnüglich eingefangen.
Eine abschließende Beurteilung des Romans fällt daher schwer. Bei Handlung und Hauptfiguren ist eindeutig noch Luft nach oben, aber der ruhige Erzähltonfall liest sich angenehm, und einzelne Beschreibungen und Szenen sind so treffend, dass man Helle Tage, helle Nächte schon um ihretwillen mögen will. Letztlich hängt es wohl von den individuellen Lesevorlieben ab, ob Erzählweise und Gesamtstimmung oder aber die erwähnten Kritikpunkte für einen stärker ins Gewicht fallen.
Hiltrud Baier: Helle Tage, helle Nächte. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, 2020, 352 Seiten.
ISBN: 978-3-596-29854-9