Ich, Hannibal

Hannibal plant, gegen Rom zu ziehen, will aber vorab noch den Rat eines Orakels einholen. Von der zu dem Zweck unternommenen Reise kehrt allerdings nur seine Frau Himilke ins Heerlager zurück und behauptet Unglaubliches: Hannibal, dessen Namen sie fortan selbst annimmt, habe sich im Kampf gegen ein nun unterworfenes Fabelwesen geopfert, um ihr einer Prophezeiung gemäß den Feldherrenposten zu überlassen. Die Geschichte erregt nicht nur bei der Führungsriege des Heeres, sondern auch bei Hannibals einstigem Mentor, dem griechischen Sklaven und Chronisten Sosylos, Verdacht, aber dass sie tatsächlich nicht so ganz stimmt, weiß bis auf die neue Hannibal zunächst nur eine: die alternde Bestienjägerin Tamenzut, die magische Kreaturen einfangen und in den Kriegsdienst der Menschen pressen kann. Dennoch oder gerade deshalb ist sie bereit, Hannibal zu unterstützen, und so beginnt ein denkwürdiger Feldzug, der den Beteiligten nicht nur körperlich einiges abverlangt. In Rom findet sich unterdessen die junge Fulvia als Witwe mit drei Stiefkindern so gut wie mittellos wieder, da Scipio, der intrigante Neffe ihres verstorbenen Mannes, der kleinen Familie das Erbe streitig macht. Um ihren Rechtsanwalt bezahlen zu können, ist sie zähneknirschend bereit, sogar sich selbst zu verkaufen, und gerät so über eine Bordellwirtin mit dem sprechenden Namen Ebriete an den Iberer Caras und damit an eine ganz andere Aufgabe, als sie zunächst geplant hat: Spionage …

Ich, Hannibal, der neueste Fantasyroman von Judith und Christian Vogt, greift mit dem Zug Hannibals gegen Rom zwar ein bekanntes geschichtliches Ereignis auf, stellt aber schon von den ersten Sätzen an klar, dass man es nicht mit einem historischen Roman, sondern mit waschechter Fantasy zu tun hat (auch wenn die schöne Landkarte von C. F. Srebalus erst einmal die reale Mittelmeerwelt als Handlungsort suggeriert). Denn abgesehen davon, dass die Ausgangslage durch den frühen Tod des ursprünglichen Hannibal ein gutes Stück von ihrem echten Vorbild abweicht und auch der Verlauf der Ereignisse trotz mancher Parallelen zur Realität eigenen Regeln gehorcht, spielen hier von Anfang an der antiken Mythologie entsprungene oder eng an sie angelehnte Monster eine Rolle (von bekannten wie dem Minotaurus bis zu entlegeneren wie dem Leucrocotta). Sie zu beherrschen, bedeutet zugleich auch Macht über Menschen und damit ein Schlupfloch für die von politischen und militärischen Ämtern eigentlich ferngehaltenen Frauen, sich Positionen zu erobern, die ihnen ohne den Zugriff auf die geheimnisvollen Geschöpfe verschlossen bleiben müssten (was allerdings auch seine Schattenseiten hat – dazu unten mehr). Nicht ohne Grund ist Hannibals mystische Bindung an ein Zyklopenelefantenweibchen (hinter dem man eine Anspielung auf die Forschungsmeinung vermuten darf, dass Fossilien prähistorischer Elefantenarten die Zyklopensagen inspiriert haben) eines der bestimmenden Elemente der Handlung.

Der Titel allerdings trügt ein wenig, denn die neue Hannibal ist keine Ich-Erzählerin, sondern zunächst einmal eine schwer fassbare Gestalt, die sich nicht nur physisch meist hinter einer Maske verbirgt und oft genug auch den Perspektivfiguren ein Rätsel bleibt, aber mit List und Tücke als Heerführerin durchaus Erfolge feiert, wenn man Gemetzel denn als Erfolg betrachten will. Ich, Hannibal ist nicht allein deshalb phasenweise ein sehr brutales Buch, in dem nicht nur das Blut von Opfertieren und Ungeheuern munter vergossen wird und auch sexuelle Gewalt immer wieder fast beiläufig geübt wird. Der erste Tod per Zyklopenelefantenbestie lässt keine ganzen fünf Seiten auf sich warten und bleibt bei weitem nicht die letzte Gewaltschilderung. Dazu geht es oft äußerst derb zu, sprachlich wie auch inhaltlich. Gerade die im alten Rom allgegenwärtigen Phallusdarstellungen scheinen es dem Autorenduo angetan zu haben und werden mit viel Begeisterung geschildert (und von Tamenzut auch gelegentlich ganz handfest zum Einsatz gebracht).

Ohnehin haben Judith und Christian Vogt erkennbar Freude daran, ein pralles Bild der Antike zu zeichnen, neben Offensichtlichem auch durch viele kleine versteckte Anspielungen (so evozieren etwa die im Nebensatz einmal in Fulvias Gedanken auftretenden „verlogenen Punier“ das römische Vorurteil von der punica fides, Figuren von außerhalb dürfen konstatieren, dass Rom im 3. Jahrhundert v. Chr. eben noch nicht die in der populären Vorstellung präsente Stadt aus Marmor ist, zu der es ja erst Augustus gemacht haben will, und auch die römische Angewohnheit, über gern auch griechische Wandgraffitti zu kommunizieren, findet – sogar in sehr anrührender Form – Erwähnung). Trotz der erkennbar gründlichen Recherche steht der Aspekt der historischen Fantasy aber gar nicht unbedingt im Vordergrund. Die im Nachwort enthaltene Information, dass Fulvias aussichtsloser Kampf um das Erbe ihres Mannes auf das Schicksal von Christian Vogts Stiefgroßmutter zurückgeht, stimmt betroffen, verdeutlicht aber zugleich auch perfekt, dass es den „Vögten“, wie sie sich selbst als Duo gern nennen, nicht notwendigerweise um die spezifischen gesellschaftlichen Strukturen der Antike (ob nun in Karthago oder in Rom) geht, sondern um eine flammende Anklage gegen das Patriarchat und die vor allem männliche Tendenz, aus kriegerischer und sonstiger Gewaltausübung soziales und politisches Kapital zu schlagen.

Dieser aktivistische Ansatz ist hier noch drängender und expliziter geworden als in ihren älteren Romanen und gewinnt eine zusätzliche Ebene dadurch, dass Ich, Hannibal sich auch als Dekonstruktion der Art von (vielleicht nur vermeintlich) feministischen Geschichten lesen lässt, in denen eine einzelne, oft als außergewöhnlich charakterisierte Frau sich in einem sonst Männern vorbehaltenen Bereich gegen alle Widerstände bewährt. Hannibal und die geschlechtlich in ihrem Selbstbild nicht eindeutig festgelegte, aber von ihrer Umwelt als Frau gesehene Tamenzut brillieren zwar in klassisch männlich konnotierten Betätigungsfeldern (Feldzugsleitung und Monsterkampf), aber ob damit eigentlich viel gewonnen oder nicht doch eher das Prinzip der Durchsetzung durch Gewalt an sich fragwürdig ist, wird im Verlauf der Handlung immer stärker zum tragenden Thema des Romans.

Noch zwingender als in ihrem älteren Buch Schildmaid lassen Judith und Christian Vogt daher bei Hannibal und Tamenzut, aber auch bei Fulvia die Erkenntnis wirken, dass eine simple (Re-)Integration um ihre Freiheit kämpfender Unterdrückter in eine von Hierarchien, Unterwerfung und Zwängen geprägte Gesellschaft nicht der Weisheit letzter Schluss ist – im Gegenteil, dass vielleicht auch und gerade diejenigen, die sich ihre (begrenzte) Macht hart erkämpft haben, gut daran tun, zu hinterfragen, ob sie ein Recht haben, sie auszuüben, oder nicht doch andere und schwierigere Wege gehen sollten.

Spannende Lektüre mit ausgedehnten Abenteuersequenzen ist das durchaus, aber wer hinter einer Geschichte, die mit einem weiblichen Hannibal und Fabelwesen der Antike wirbt, simple Empowerment-Fantasy vermutet, in der Frauen und andere zu kurz Gekommene endlich einmal tun und genießen dürfen, was für Männer selbstverständlich ist, wird beim Lesen wohl eine Überraschung erleben. Ob es eine böse oder nicht vielmehr eine positive ist, hängt sicher auch und vor allem von der eigenen Sicht auf die Welt ab.

Judith und Christian Vogt: Ich, Hannibal. Rom wird vor ihr erzittern. München, Piper, 2024, 432 Seiten.
ISBN: 978-3-492-70658-2


Genre: Roman