Im Reich der Wünsche

Das 19. Jahrhundert war im deutschsprachigen Raum die große Zeit der Märchensammler und -dichter. Bei denen von ihnen, die heute noch einem breiten Publikum geläufig sind, handelt es sich in aller Regel um Männer, allen voran natürlich die Gebrüder Grimm, aber auch Autoren wie Wilhelm Hauff, Clemens Brentano oder Ludwig Tieck. Dass diese Auswahl nicht das tatsächliche Veröffentlichungsspektrum der Epoche widerspiegelt, zeigt die Germanistin Shawn C. Jarvis eindrucksvoll in ihrer Anthologie Im Reich der Wünsche. Die schönsten Märchen deutscher Dichterinnen. Auch Frauen sammelten und verfassten damals Märchen und waren in vielen Fällen beliebte und durchaus auch kommerziell erfolgreiche Schriftstellerinnen. Nur eines gelang ihnen weitaus seltener als Männern, wie Jarvis in ihrem aufschlussreichen Nachwort erläutert: die Aufnahme ihrer Werke in die Schullektüre und damit auch in den allgemeinen Bildungskanon. Hier sahen die zumeist männlichen Entscheider Frauen lange nur als Autorinnen reiner Unterhaltungs- oder Kinderliteratur, während vergleichbaren von Männern geschriebenen Texten ein höherer Anspruch und damit auch die Tauglichkeit für Lehrzwecke zugebilligt wurde.

Bis in die Gegenwart als Schriftstellerinnen berühmt sind daher nur einige der Märchenautorinnen, die in diesem Band versammelt sind, darunter Bettine von Arnim, Marie von Ebner-Eschenbach oder Ricarda Huch. Viele andere sind dagegen heutzutage vergessen oder primär für andere Dinge bekannt. So überrascht es z.B., dass die Reihe der Autorinnen von Katharina der Großen angeführt wird. Doch die Zarin schrieb im späten 18. Jahrhundert tatsächlich Märchen für ihre Enkel und war eindeutig nicht ohne literarische Begabung, auch wenn in ihrem Märchen vom Zarewitsch Chlor der erhobene pädagogische Zeigefinger zumindest aus der Erwachsenenperspektive beim Lesen fast schon zum Fremdschämen offensichtlich ist.

Die einzige Geschichte mit einer klar didaktischen Ausrichtung ist dieses Märchen allerdings nicht. Ganz den Weiblichkeits- und Erziehungsidealen ihrer Zeit verpflichtet scheint z.B. Agnes Franz, in deren Prinzessin Rosalieb Gehorsam, Handarbeitsfleiß und Bescheidenheit der Titelfigur von einer recht brutalen Fee geradezu erfoltert werden. Für moderne Leserinnen und Leser nachvollziehbarer und in manchem subversiver geht dagegen Friederike Helene Unger an das Thema heran, deren Prinzessin Gräcula in einer von bissigem Humor geprägten Entwicklungsromanparodie lernen muss, dass Intelligenz und Schönheit allein nicht genug sind, wenn menschlicher Anstand fehlt. Hier wird eher das Versagen der Eltern bei der Erziehung als das Fehlverhalten der Tochter betont, und immerhin: Die eigentlich als uneheliches Kind geborene Prinzessin steigt nach ihrer Läuterung zur Herrscherin auf.

Noch deutlicher treten feministische Elemente in anderen Geschichten hervor. Fanny Lewalds Modernes Märchen – trotz des Titels eigentlich eher eine Erzählung mit phantastischen Zügen als ein Märchen im klassischen Sinn – hat nicht nur eine Ich-Erzählerin, die sich selbst als „heute emanzipiert“ bezeichnet, sondern schildert auch eindringlich, wie deren nicht unbedingt dem Frauenideal des mittleren 19. Jahrhunderts entsprechende unverheiratete Tante die Heldin davor bewahrt, auf nur äußerlich attraktive Männer hereinzufallen, die das Mädchen zu ihren eigenen Zwecken ausnutzen wollen.

Auch andere bis heute aktuelle Probleme werden in verblüffend moderner Form aufgegriffen. Elisabeth Ebelings Schwarz und Weiß mag zwar aus jetziger Sicht sprachlich in einigen Punkten antiquiert sein, doch die märchenhafte Geschichte um den ritterlichen schwarzen Prinzen Almansor, der erkennen muss, dass seine weiße Angebetete ihn aufgrund ihrer Arroganz und ihrer Vorurteile nie respektieren wird, obwohl er sich auf ihren Wunsch in einen Weißen zu verwandeln versucht, ist als Blick auf eingefleischten Rassismus, den selbst alle Anpassungsbemühungen der Opfer nicht überwinden können, leider immer noch nicht überholt.

Einen interessanten Fall stellen die Geschichten Die Nymphe des Rheins von Charlotte von Ahlefeldt und Libelle von Benedikte Naubert da, denn Naubert schrieb in diesem Fall quasi das, was man heute unter dem Begriff der Fanfiction einordnen würde: Geht es in Ahlefeldts Märchen um die Rache einer Rheinnymphe an ihrem untreuen Geliebten, bietet Naubert eine Fortsetzung dazu, in der die im Original nur ganz am Rande erwähnte menschliche Verlobte des Mannes die Hauptrolle spielt und herauszufinden versucht, was aus ihrem verschwundenen Bräutigam geworden ist. Dieser selbst bleibt in beiden Texten übrigens so blass und in seinem Verhalten seinen Partnerinnen gegenüber zweifelhaft, dass man sich insgeheim fragt, warum gleich zwei Damen derart verliebt in ihn sind – aber zu tief sollte man hier wohl nicht zu psychologisieren versuchen.

Zusätzlichen Reiz gewinnt der Band durch die Illustrationen von Isabel Große Holtforth, die mit ihren stilisierten, in Blau, Gold und Weiß gehaltenen Bildern eine zeitlose Begleitung zu den Geschichten schafft.

Wer nun übrigens neugierig geworden ist und gern noch mehr Märchen von oder über Frauen lesen möchte, findet hier eine kleine Auflistung von Buchtipps zum Thema.

Shawn C. Jarvis (Hrsg., unter Mitwirkung von Roland Specht Jarvis): Im Reich der Wünsche. Die schönsten Märchen deutscher Dichterinnen. München, C.H. Beck, 2012, 368 Seiten.
ISBN: 978-3406640247


Genre: Anthologie, Märchen und Mythen