Lil Bob

Als Kind einer drogensüchtigen Mutter und eines Vaters mit Alkoholproblem wird die kleine Lily Bobinski zunächst überwiegend von ihrer Großmutter aufgezogen. Nach deren plötzlichen Tod ist der Vater mehr denn je überfordert, und so kommt Lily als Vierjährige aus England nach Hamburg zu ihrem Onkel Paul, dessen Lebensgefährte Ian ihr bald eine ganz neue Welt eröffnet: die der Musik. Nicht nur musikalisch hochbegabt, meistert sie den Cellounterricht ebenso mühelos wie die Schule. Der Umgang mit Menschen fällt ihr dagegen nicht nur aufgrund ihrer Gesichtsblindheit ein gutes Stück schwerer. Doch als ihre Karriere als Cellistin sie schon in jungen Jahren nach England zurückführt, begegnet sie dort zwei Personen, die für ihr weiteres Leben prägend werden sollen: der mit ihrem traurigen Schicksal ringenden Komponistin Fanny, die ihr zur Mentorin wird, und der brillanten jungen Pianistin Theda …

Der Roman Lil Bob lebt vor allem von seiner Ich-Erzählerin Lily, deren Stimme sich Stück für Stück ihrem steigenden Alter vom Kind bis zur jungen Frau anpasst. Gerade die Anfangskapitel sind stark von noch kindlichen Formulierungen und naiv-klugen Überlegungen über Gott und die Welt geprägt, obwohl sich manchmal Informationen in den Text stehlen, die erst der erwachsenen Lily in der Rückschau bekannt sein können. Dadurch bleibt die imaginierte Erzählsituation, in der Lily ihre Erlebnisse schildert, etwas diffus, aber da das für aus der Ich-Perspektive geschriebene Bücher nicht untypisch ist, stört das nicht weiter.

Während dieser Kinderblick zunächst noch die harten Themen, die angeschnitten werden, auflockert und mildert, wird das Buch Schritt für Schritt zu einer immer ernsteren Auseinandersetzung mit Leben und Tod. Im Hintergrund stets präsent ist die Geschichte einer vom Holocaust brutal auseinandergerissenen Familie, ein Trauma, das sich nicht nur auf die unmittelbar davon betroffenen Generationen auswirkt. Doch auch Alltagssexismus, latente bis offene Homophobie, die unschönen Seiten des Musik- und Kulturbetriebs und das unentrinnbare Gefühl, lebenslang eine Außenseiterrolle einzunehmen und unverstanden zu bleiben, werden nuanciert dargestellt. Bisweilen wird sogar gemordet, teilweise nur in Gedanken, in einem Fall aber auch sehr handfest.

Genug Stoff also für einen sehr deprimierenden Roman, würde man meinen – und sich in diesem Fall doch irren, denn es gelingt Ruth Frobeen, einen leichten und oft sogar heiteren Erzähltonfall beizubehalten und dabei unerwartete und einprägsame sprachliche Bilder zu zaubern, ganz gleich, ob nun metaphorische Samthandschuhe Löcher bekommen oder eine sonst runde Seele unter Belastung eckige Formen annimmt. Dabei mischt sich in das Entsetzliche auch viel Schönes, so etwa ein Blick für Pflanzen (die Lily aus gutem Grund schon früh alle beim Namen kennt), die Trostwirkung von Katzen und Kuscheltieren und allen voran immer wieder die Musik, die hier nicht nur in ihrer ideellen, sondern auch in ihrer sinnlich-körperlichen Dimension fassbar wird, von ihren Vibrationen über die Haptik von Cellobogen und Feinstimmer bis hin zur Hornhaut an Musikerfingern. Wer selbst gern musiziert oder auch nur musikinteressiert ist, findet viele Szenen zum Eintauchen und Mitempfinden. Hamburg und Cornwall als gegensätzliche, aber jeweils mit viel Begeisterung eingefangene Kulissen tun ein Übriges, die Geschichte lebendig wirken zu lassen.

So ist Lil Bob vieles auf einmal, Entwicklungsroman, Reflexion über die deutsche Vergangenheit und Loblied auf die Musik und ihre Fähigkeit, Kraft zu spenden und Überlebenshilfe zu sein. Es lohnt sich also, sich für ein paar Lesestunden auf Lily und ihre ganz besondere Sicht auf die Welt einzulassen.

Ruth Frobeen: Lil Bob. Hamburg, Selbstverlag, 2021, e-Book.
ISBN: 978-3-9819400-5-3


Genre: Roman