Lange Zeit war die Familie des jungen Historikers Khirkara wohlhabend, doch seit der Firmenpleite seiner Mutter müssen sie und ihre Söhne sich mühsam durchschlagen. Als historischer Berater einer unterfinanzierten Filmproduktion, die auf einer alten Sage über einen Schäfer und eine geheimnisvolle Bestie basiert, hat Khirkara oft das Gefühl, dass es gar nicht mehr schlimmer kommen kann. Doch weit gefehlt: Als seine Mutter durch eine Verkettung unglücklicher Umstände gezwungen ist, Schadenersatz zu leisten, den sie nicht aufbringen kann, soll sie die Schulden abarbeiten. Um der Familie nicht die hauptsächliche Ernährerin zu nehmen, erklärt Khirkara sich bereit, für sie einzuspringen, und gerät so auf einen verfallenen Landsitz. Misstrauisch beäugt muss er dort bei der Betreuung des durch einen Axthieb grauenvoll entstellten und sprachunfähigen Atzgar helfen. Wider Erwarten freunden die beiden jungen Männer sich an und empfinden bald noch weitaus mehr füreinander. Doch Atzgar scheint ein dunkles Geheimnis zu hüten, und was Khirkara in seiner Bibliothek entdeckt, spricht dafür, dass auch hinter der Geschichte von Schäfer und Bestie etwas ganz anderes steckt als zunächst angenommen …
Es ist eine ungewöhnliche, aber bestechende Form der Märchenadaptation, die Sharon J. Gochenour wählt, um Die Schöne und das Biest in eine moderne, wenn auch fremde Welt zu versetzen. Handlungsort ist ein fiktiver zentralasiatischer Staat, dessen tiefreligiöse Gesellschaft traditionell matriarchal strukturiert ist und in dem die Moderne nicht nur positive Neuerungen, sondern auch viel soziale Ungerechtigkeit mit sich bringt. Neben seiner sehr authentisch heraufbeschworenen Jetztzeit hat das Land jedoch auch eine reiche Geschichte, die liebevoll ausgemalt und mit erfundenen Primärquellen ebenso wie mit Sekundärliteratur versehen wird: Auszüge aus der Dichtung über den Schäfer sind ebenso in den Text eingeflochten wie Teile des von Khirkara so verabscheuten Filmskripts, Passagen aus einer Monographie über die Sage und jahrhundertealte Briefe eines Missionars, die Khirkara helfen, den Ursprung der Legenden über die geheimnisvolle Bestie auszumachen (die zwischen dem „Biest“ des bekannten Märchens und einer entfernten Verwandten der Bête du Gévaudan changiert).
Fantasy im klassischen Sinne ist die Geschichte trotz des erfundenen Schauplatzes und des üppigen Weltenbaus nicht. Atzgars Schicksal hat, wie sich erweist, alles andere als übernatürliche Ursachen, und auch die Aufdeckung seines Geheimnisses bleibt ganz innerhalb der Realität. Dies ist übrigens die einzige Hinsicht, in der die Erzählung enttäuscht: Die knappe und überhastete Auflösung der Handlungshintergründe wirkt wie eine lieblose Pflichtübung, die noch so manche Frage offenlässt.
Gochenours Hauptinteresse gilt neben dem Weltentwurf und dem gelungenen literarischen Spiel mit verschiedenen Textgattungen eindeutig der kammerspielartigen Entwicklung des Verhältnisses zwischen ihren beiden Hauptfiguren. Die Schilderung der behutsamen Annäherung über alle anfänglichen Kommunikationshindernisse hinweg glückt auch tatsächlich so sensibel und voller Zwischentöne, dass man dem Buch die oben skizzierte Schwäche auf der Plotebene ebenso gern verzeiht wie ein paar stehengebliebene Flüchtigkeitsfehler (z.B. fälschlich fauna an einer Stelle, an der es ausschließlich um die Flora einer Region geht). Stilisierte, aber ausdrucksvolle Illustrationen der Autorin zur Schäfersage runden das lesenswerte E-Book ab.
Sharon J. Gochenour: Monsters: A Retelling of Beauty and the Beast. High Flying Poultry Press (KDP), 2018, ca. 200 Seiten (E-Book).