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Attila. Der Schrecken der Welt

Von allen Herrschergestalten der Völkerwanderungszeit hat sich Attila bis heute den größten Bekanntheitsgrad bewahrt. Ob als Etzel des Nibelungenlieds oder als archetypischer barbarischer Eroberer, mit dessen Schandtaten die moderner Politiker und Militärs verglichen werden – in irgendeiner Gestalt ist er wohl jedem schon einmal begegnet. Mit diesen heutigen Erinnerungen an Attila und seine Hunnen setzt Klaus Rosen dementsprechend auch ein, um sich erst dann der historischen Persönlichkeit und ihrem Umfeld zuzuwenden.
Obwohl das Buch auf dem Umschlag als „Biographie“ beworben wird, sollte man den Begriff nicht allzu eng auslegen. Für den einer schriftlosen Kultur entstammenden Attila ist die Quellenbasis naturgemäß schmaler als für Zeitgenossen wie etwa Augustinus, die auch umfangreiche Selbstzeugnisse hinterlassen konnten, und zudem durch die Perspektive seiner Gegner geprägt. So wäre es vielleicht treffender, hier von einer Geschichte der Hunnen unter besonderer Berücksichtigung ihres berühmtesten Königs zu sprechen.
Über dessen Kindheit und Jugend ist kaum etwas bekannt. Aus dem Dunkel der Geschichte trat er erst hervor, als er gemeinsam mit seinem älteren Bruder Bleda im Jahre 434 als Nachfolger seines Onkels Rua die Herrschaft über die Hunnen übernahm und durch die Hinrichtung missliebiger Verwandter gleich bewies, dass mit ihm nicht zu spaßen war.
Diese Skrupellosigkeit sollte auch weiterhin für ihn charakteristisch bleiben: Durch die Ermordung Bledas zum Alleinherrscher aufgestiegen, vermochte er die hunnische Vorherrschaft im Karpatenbecken dank militärischer Erfolge, ungleicher Bündnisse und einer polygamen Heiratspolitik zu einem wahren Vielvölkerreich auszubauen, dem er allerdings nie eine über die Gefolgschaftsbindung an seine Person hinausgehende Struktur verleihen konnte oder wollte. Lange Zeit als Anführer von Raubzügen gegen das in Ost und West zerfallene Römische Reich gefürchtet, agierte er ausgerechnet bei den Unternehmungen, die seinen Ruf als „Schrecken der Welt“ zementieren sollten, eher glücklos: dem Einfall nach Gallien, der in der berühmten Schlacht auf den Katalaunischen Feldern 451 mit einer Niederlage für ihn endete, und dem nach anfänglichen Siegen abgebrochenen Angriff auf Italien unmittelbar danach.
Diese Misserfolge durch einen Feldzug gegen Ostrom wieder wettzumachen, gelang ihm nicht mehr, da er in seiner letzten Hochzeitsnacht 453 eines plötzlichen, wenn auch natürlichen Todes starb. Seinen Söhnen war es nicht vergönnt, sich die von ihm angehäufte Machtfülle zu erhalten, so dass sein Ende zugleich auch den Beginn des Absinkens der Hunnen in die politische Bedeutungslosigkeit einläutete.
Eingebettet ist diese Lebensschilderung in überzeugende Analysen der spätantiken Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten. Vom Römischen Reich, das – so der Autor pointiert – den an seiner Peripherie Lebenden als „Vorratskammer mit Selbstbedienung“ erschien, versuchten viele in irgendeiner Form zu profitieren, doch für diejenigen, die z.B. als Foederaten eine Einbindung in seine Ordnungssysteme erfuhren, waren die Aussichten auf langfristig stabile Verhältnisse deutlich größer als für einen extrem durch personale Herrschaft und das Charisma Einzelner geprägten Verband wie die Hunnen.
Es ist ein Glücksfall, dass dieses so spannende Thema hier eine besonders mitreißende und angenehm zu lesende Umsetzung erfährt. Klaus Rosen verfügt bei aller Quellenkritik und gebotenen Distanz zum Gegenstand über eine Fähigkeit, die vielen anderen Historikern leider fehlt: Er ist ein hervorragender Erzähler, der aus Geschichte zugleich eine Geschichte zu machen versteht. Gerade an den Stellen, an denen er dem Bericht des Priscus über eine oströmische Gesandtschaft zu Attila folgt, ist man fast wie bei einem Roman mitten im Geschehen. Auch wenn man – bei bekannten historischen Ereignissen unvermeidlich – im Voraus weiß, wie sich alles entwickeln wird, ertappt man sich oft dabei, gebannt weiterzulesen und die schöne Lektüre nicht aus der Hand legen zu wollen.
So ist Attila. Der Schrecken der Welt am Ende vor allem eines: ein Buch, das einem ins Gedächtnis ruft, was für ein wunderbares Abenteuer Geschichte sein kann.

Klaus Rosen: Attila. Der Schrecken der Welt. München, C. H. Beck, 2016, 320 Seiten.
ISBN: 9783406690303


Genre: Biographie, Geschichte

Freiherr vom Stein. Preußens Reformer und seine Zeit

Den Stein-Hardenberg’schen Reformen entkommt man im schulischen Geschichtsunterricht nicht, aber über die Menschen, die hinter diesen Maßnahmen standen, erfährt man in aller Regel nur sehr wenig. Heinz Duchhardts Kurzbiographie Freiher vom Stein. Preußens Reformer und seine Zeit (die auf dem ausführlicheren Werk des Verfassers zum selben Thema beruht) schafft Abhilfe, was einen der beiden Herren betrifft.
Wer also war jener Heinrich Friedrich Karl vom Stein, der einem diffus als Reformer und vielleicht auch noch als Begründer der bis heute Maßstäbe setzenden Quellenedition Monumenta Germaniae Historica ein Begriff ist?
In Duchhardts vor allem auf den Politiker Stein ausgerichteter Biographie, in der sein Elternhaus ebenso wie seine Frau und seine beiden Töchter eher eine Nebenrolle spielen, tritt Stein einem als Mann nicht ohne Widersprüche entgegen, administrativ klug, aber beileibe kein Diplomat und auf Neuerungen nicht um ihrer selbst willen erpicht, sondern aus einer letztlich zutiefst konservativen Sehnsucht nach einer idealisierten guten alten Zeit heraus. In eine kinderreiche Reichsritterfamilie hineingeboren und von den Eltern aus bis heute ungeklärten Gründen zum Alleinerben bestimmt, obwohl er nicht der älteste Sohn war, zeigte Stein schon in seinem Studium in Göttingen historisches Interesse. Seine Entscheidung, in preußische statt, wie in der Familie üblich, in Mainzer oder kaiserliche Dienste zu treten, lag wohl unter anderem darin begründet, dass er dort Anpassungsdruck und absolutistische Tendenzen für geringer ausgeprägt hielt als in anderen deutschen Staaten. Während erster Verwaltungstätigkeiten in Westfalen sammelte Stein Erfahrungen mit dort erhaltenen Elementen des vorabsolutistischen Ständestaats, die ihn tief beeindruckten und seine Ablehnung zentralistischer Tendenzen zugunsten stärkerer Bürgerbeteiligung und lokaler Eigenständigkeit prägten.
Sein 1804 übernommenes erstes Ministeramt wurde Stein im Zuge des desaströsen Kriegsausbruchs 1806 nicht zuletzt aufgrund seines wenig umgänglichen Auftretens König Friedrich Wilhelm III. gegenüber wieder los. 1807 abermals zum Minister berufen führte er die Reformen durch, für die er berühmt werden sollte, die aber nur teilweise auf seinen ureigensten Ideen beruhten. Während er z.B. Maßnahmen wie die Bauernbefreiung zwar mittrug, waren sie für sein eigenes Denken weniger zentral als das Bemühen, die Verantwortung des einzelnen Bürgers für das Gemeinwesen zu stärken und ihm insbesondere im Rahmen der lokalen Verwaltung Partizipationsmöglichkeiten zu verschaffen. Von einer allgemeinen Demokratisierung waren Steins Vorstellungen dabei weit entfernt. Vielmehr ist ihnen eine paternalistische Tendenz nicht abzusprechen, die vor allem die besitzenden Bürger in die Pflicht nahm und verrät, dass Stein eher die Rückbesinnung auf eine geschönte Vergangenheit umtrieb als die Orientierung an aufklärerischen Idealen.
Bei der Umsetzung seiner Überlegungen fehlte es Stein teilweise an Fingerspitzengefühl, und so machte sich mehrfach unnötig Gegner. Duchhardt spart dabei nicht mit amüsanten Details; so erfährt man z.B., dass der christlich-sittenstrenge Stein den in der Erinnerung auf ewig mit ihm verbundenen Hardenberg und dessen lockeren Lebenswandel persönlich wenig schätzte. Angesichts des Widerstands, den Stein oft geradezu herausforderte, ist es kein Wunder, dass seine Vision für eine Umformung des Staats nur in Teilen Wirklichkeit wurde (so gelang ihm zwar eine Städteordnung, nicht aber die Durchsetzung einer umfassenden Verwaltungsreform auch für ländliche Gebiete).
Aufgrund eines publik gewordenen napoleonkritischen Briefs politisch untragbar geworden und später gar zur Flucht gezwungen verlagerte Stein in der Folgezeit seine politischen Aktivitäten vor allem im Dienst des russischen Zaren auf die Agitation gegen Napoleon und die Förderung der Koalition gegen Frankreich. Seine Tragik liegt vielleicht darin, dass er zwar damit zum Erfolg der Befreiungskriege beitrug, deren Einmünden in die Restauration und eine Stärkung staatlicher Zwänge seinen Überzeugungen zuwiderlief.
Im Alter war er nur noch mit mäßigem Erfolg regionalpolitisch tätig und flüchtete sich in eine Verklärung sowohl der Befreiungskriege als auch des Hochmittelalters, das er als Höhepunkt deutscher Geschichte betrachtete. Dass ausgerechnet diese Romantisierung ihn 1819 zur Gründung der „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde“ motivierte, die als Herausgeberin der für die kritische Beschäftigung mit der Geschichte so wichtigen Monumenta Germaniae Historica fungierte, ist eine charmante Ironie.
Bei Steins Tod 1831 kam es zwar zu Trauerbekundungen der Bevölkerung, doch ins Konzept der preußischen Regierung passte er zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr.
Originell und zugleich überzeugend ist Duchhardts Überlegung, dass vielleicht gerade dieses partielle Scheitern dafür sorgte, dass Stein postum von verschiedenster Seite viel Sympathie entgegengebracht wurde und politisch völlig konträr ausgerichtete Gruppen versuchten, das Gedenken an ihn jeweils zu vereinnahmen. Diese Erinnerungskultur sieht Duchhardt mittlerweile im Schwinden begriffen, doch wenn man bedenkt, dass mit dem berühmten Namen im Laufe der Zeit auch viel Schindluder getrieben wurde, weiß man nicht recht, ob man das bedauern sollte.
Obwohl Duchhardt seinen Protagonisten also durchaus realistisch sieht, folgt die Biographie dem in den letzten Jahren vestärkt zu beobachtenden Trend, die überkritische Deutung, die manche historische Persönlichkeit in der modernen Geschichtswissenschaft erfahren hat (man denke etwa an Wehlers vernichtende Einschätzung Steins in seinem Standardwerk zur Deutschen Gesellschaftsgeschichte), zu hinterfragen und anstelle einer Bewertung primär nach heutigen Kriterien den Versuch zu setzen, den Menschen aus seiner Zeit heraus zu verstehen. Diese Relativierung pauschaler Negativurteile gereicht dem Werk nicht zum Nachteil.
Um die Lektüre voll und ganz genießen zu können, schadet es nicht, ein paar Vorkenntnisse zum Napoleonischen Zeitalter mitzubringen. In etwa sollten einem die grundlegenden politischen und militärischen Entwicklungen (und idealerweise auch die Namen einiger Adelshäuser und Einzelpersonen) präsent sein, denn während das Bändchen hervorragend als erste Annäherung an den Freiherrn vom Stein funktioniert, ist es eindeutig keine Einführung in seine im Titel ebenfalls beschworene Zeit.

 

Heinz Duchhardt: Freiherr vom Stein. Preußens Reformer und seine Zeit. C.H. Beck, München 2010, 127 Seiten.
ISBN: 978-3406587870.


Genre: Biographie

Philipp II. von Makedonien

In der allgemeinen Wahrnehmung ist Philipp II. von Makedonien vor allem eines – der Vater Alexanders des Großen, der oft als der ungleich bedeutendere Herrscher betrachtet wird. Jörg Fündling beweist in seiner packend geschriebenen und gut lesbaren Biographie Philipps, dass dieser verkürzte Blickwinkel dem facettenreichen Makedonenkönig nicht gerecht wird, der wesentlich mehr zu bieten hatte, als nur Wegbereiter seines Nachfolgers zu sein.
Eine große Zukunft war Philipp nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Als vermutlich sechster Sohn des in Polygamie lebenden und entsprechend kinderreichen Makedonenkönigs Amyntas III. wurde er in eine Zeit hineingeboren, in der das Überdauern der Herrschaft der Argeaden mehr als einmal am seidenen Faden hing. Während nacheinander zwei seiner Brüder dem Vater als Könige nachfolgten, wurde der jugendliche Philipp als Geisel nach Illyrien und später nach Theben gegeben. Erst nach dem überraschenden Tod seines Bruders Perdikkas auf einem Feldzug gelangte Philipp unter Verdrängung eines Neffen an die Macht, wobei ungeklärt ist, ob er von Anfang an den Königstitel führte oder zunächst nur als Regent fungierte. Beneidenswert war seine Lage jedenfalls nicht: Zwischen den kriegerischen Illyrern und Thrakern einerseits und der griechischen Poliswelt andererseits überwiegend im Binnenland eingezwängt, war Makedonien ein vergleichsweise rückständiger Landstrich, der bis auf seine Wälder, deren Holz für Schiffbau und Waffenherstellung begehrt war, und noch fast unerschlossene Metallvorkommen wenig zu bieten hatte. Obwohl sich die makedonischen Herrscher als Hellenen zu gerieren versuchten und sich gar einer Abstammung von Herakles rühmten, galten sie aus griechischer Sicht aufgrund ihrer Vielweiberei, ihrer rauen Sitten und ihres Lebens an der Peripherie Europas überwiegend als Barbaren.
Vordergründig schien Philipp dem Klischee zu entsprechen: Auch er war mit zahlreichen Frauen gleichzeitig verheiratet (unter denen die Molosserin Olympias, die Mutter Alexanders des Großen, durch ihre politischen Aktivitäten und nicht zuletzt auch ihre Konflikte mit ihrem Ehemann besonders hervorsticht), repräsentierte mittels verschwenderischer Gelage und führte seine zahlreichen Kriege gegen die Nachbarvölker nicht nur als Stratege, sondern auch unter erheblichem persönlichen Einsatz, der ihn ein Auge kostete und ihm nach und nach eine Reihe anderer Verwundungen bescherte, die seine Gesundheit dauerhaft angriffen.
Daneben erwies er sich jedoch als äußerst geschickt darin, sein Land wirtschaftlich und militärisch zu stärken: Ein Vorantreiben der Urbanisierung und des Bergbaus und nicht zuletzt die Eroberung von Häfen schufen die Voraussetzungen für eine Anbindung an überregionale Handelsnetze, während der Aufbau einer Flotte und die Ausrüstung der Armee mit Sarissen – überlangen Lanzen, die dank des Holzreichtums der Region billig zu haben waren und taktische Vorteile den üblichen Hoplitenheeren gegenüber boten – dabei halfen, das kriegerische Potential der Makedonen besser als zuvor zu nutzen. Die gesteigerte Schlagkraft seiner Kämpfer war für Philipp in zahlreichen kleinen und großen Kriegen nützlich, die ihn aber letzten Endes doch finanziell überforderten (so hinterließ er seinem Nachfolger wohl nur geringe Mittel, wenn nicht gar Schulden).
Die verwirrende Fülle von militärischen Aktivitäten, bei denen Verbündete und Gegner ständig wechselten, veränderte die griechische Welt unwiderruflich und kulminierte schließlich in der Schlacht von Chaironeia (338 v. Chr.), in der Philipp eine Allianz aus Athen, Theben und kleineren Poleis besiegte und so die Hegemonie über ganz Griechenland erlangte. Sein letztes politisches Großprojekt war die Planung eines Feldzugs gegen das Perserreich, auf den er jedoch selbst nicht mehr aufbrechen konnte: Auf dem Höhepunkt seiner Macht wurde er ermordet.
Wie bei Persönlichkeiten der Antike aufgrund der relativen Quellenarmut unvermeidlich, kann die Biographie Philipp nicht immer dichtauf folgen. Stattdessen zeichnet sie über weite Strecken minutiös die Entwicklungen nach dem Ende des Peloponnesischen Kriegs nach, die von einer zumindest in der Rückschau bisweilen erratisch erscheinenden und eher auf die Erlangung kurzfristiger Vorteile als auf ein übergeordnetes Konzept ausgerichteten Politik der einzelnen Poleis und Tyrannen geprägt waren. Besonders Philipps bekanntester Gegenspieler, der athenische Staatsmann und Redner Demosthenes, machte dabei nicht immer eine glückliche Figur.
Allerdings resultierte laut Fündling auch die Tatsache, dass es Philipp gelang, Makedonien vom recht unbedeutenden Königreich zur Großmacht zu machen, nicht aus der zielstrebigen Verfolgung eines wie auch immer gearteten Masterplans, sondern war viel eher einer opportunistischen Ausnutzung der sich bietenden Chancen zu verdanken, zum Teil vielleicht auch dem Zwang, durch permanente Kriege einerseits den Beutehunger der makedonischen Oberschicht zu befriedigen und andererseits den eigenen Ruf zu wahren.
Obwohl also der große historische Kontext in seiner Bedeutung angemessen gewürdigt wird, hebt Fündling auch immer wieder die Handlungsspielräume des Individuums hervor. Methodisch beruft er sich dabei auf Martin Jehne, und es fällt auf, dass er bei aller Seriosität in der Sache bisweilen wie dieser einen recht humorvollen Stil pflegt. Wenn er etwa Kapiteltitel wie „Eine Geschichte zweier Städte“ oder „Ein langerwartetes Fest“ wählt, ist überdeutlich, dass hier ein Literaturkenner beschwingt mit den Assoziationen spielt, die diese aus ganz anderen Zusammenhängen bekannten Formulierungen heraufbeschwören.
Dieselbe Bereitschaft, über den Tellerrand der Geschichtswissenschaft hinauszusehen, spricht auch aus der Tatsache, dass neben den Deutungen und Instrumentalisierungen, die Philipp vonseiten der Historiker im Laufe der Jahrhunderte erfahren hat, auch seine Rezeption in der heutigen Populärkultur angerissen wird. Alles in allem ergibt sich so ein sehr differenziertes Bild des Makedonenkönigs, der es – um den Bogen zurück zum Anfang zu schlagen – nicht unbedingt verdient hat, im Vergleich mit seinem berühmteren Sohn den Kürzeren zu ziehen: Ohne auch nur im Entferntesten ein Heiliger zu sein, pflegte Philipp bei aller Brutalität und allem Aufgehen in der Rolle des hypermaskulinen, trink- und kampffreudigen Königs einen maßvolleren und tragfähigeren Umgang mit seinem Umfeld als Alexander, der seine Herrschaft gleich mit einigen Verwandtenmorden begann und in seinem Eroberungs- und Siegesdrang weit umfangreichere Zerstörungen anrichtete als sein Vater.
Die letzten Rätsel um Philipp kann allerdings auch Fündling nicht lösen: Was genau den Leibwächter Pausanias verleitete, den König auf dem Hochzeitsfest seiner Tochter Kleopatra zu erstechen, bleibt ungeklärt, obwohl sich trefflich über Motive und Hintermänner spekulieren lässt, und auch, ob die im großen Tumulus von Vergina (Aigai) gefundenen Gebeine nun Philipp oder einem anderen Vertreter der Argeadendynastie zuzuordnen sind, lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen. Fündling erläutert aber anschaulich, weshalb die Identifikation der Überreste mit dem Makedonenherrscher zur Zeit ihrer Auffindung in den 1970er Jahren in Griechenland politisch hochwillkommen war. Nichts könnte besser verdeutlichen, dass selbst historische Gestalten aus sehr fernen Epochen bis heute relevant sind, und das allein wäre Grund genug, sich mit Philipp zu beschäftigen, wäre er nicht schon aus sich selbst heraus eine im Guten wie im Bösen interessante Persönlichkeit.

Jörg Fündling: Philipp II. von Makedonien. Philipp von Zabern (WBG) 2014, 230 Seiten.
ISBN: 978-3805348225


Genre: Biographie

Buchtipps zu Leonardo da Vinci

Leonardo da Vinci (1452-1519) gehört zu den interessantesten Persönlichkeiten nicht allein der Renaissance, sondern vielleicht aller Zeiten: Seine Kunstwerke, seine naturwissenschaftlichen Forschungen, seine Erfindungen und nicht zuletzt auch sein unangepasster Charakter, der ihn trotz aller Erfolge immer wieder in Konflikte mit Auftraggebern geraten ließ und in mancherlei Hinsicht vielleicht auch innerlich einsam machte, faszinieren bis heute. Die Fülle der Literatur zu einer Ausnahmeerscheinung wie ihm lässt sich kaum überblicken; was folgt, ist also keine umfassende Liste von Leonardo-Biographien, sondern ein kurzer Überblick über vier besonders lesenswerte Titel.

1. Martin Kemp: Leonardo. C. H. Beck 2005, 311 Seiten.
ISBN: 3406534627

Der renommierte Kunsthistoriker Martin Kemp gilt als einer der Leonardo-da-Vinci-Experten schlechthin. Seinem Fach gemäß steht bei ihm Leonardo als Künstlerpersönlichkeit im Vordergrund, deren Leben in einem relativ kurzen Überblick (und im Anhang noch einmal tabellarisch) abgehandelt wird, bevor Kemp sich dem zeichnerischen und malerischen Werk unter verschiedenen thematischen Aspekten zu nähern versucht: So geht es etwa um das Sehen, die Beschäftigung mit Körpern und Maschinen und mit der belebten Welt allgemein, aber auch um narrative Elemente in Bildern. Dabei kommen Leonardos naturwissenschaftliche Interessen und seine Erfindungen zwar nicht zu kurz, aber Fluchtpunkt sind und bleiben das ganze Buch hindurch seine Kunstwerke, insbesondere seine Gemälde, die im Anhang auch noch einmal in einer Übersicht zusammengestellt sind. Leonardos Charaktermerkmale und Forschungsinteressen werden dementsprechend vor allem auf ihren Niederschlag in seiner Arbeit als Zeichner und Maler hin überprüft. Auf diese Weise erfährt man vieles über Leonardos Art des Sehens, seine künstlerischen Techniken und die mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhänge, in denen seine Bilder stehen, darf aber nicht auf allzu detaillierte biographische Informationen hoffen.

 

2. Charles Nicholl: Leonardo da Vinci. Die Biographie. Fischer Taschenbuch Verlag 2009, 752 Seiten.
ISBN: 978-3596169207

Der Untertitel ist Programm: Charles Nicholl zeichnet Leonardos Leben quellennah chronologisch und um äußerste Genauigkeit bemüht nach und stellt auch sein soziales und historisches Umfeld erschöpfend dar. Familie, Lehrmeister, Werkstattangehörige, Auftraggeber und Bekannte werden in allen Einzelheiten präsentiert, so gut es die Quellen irgend gestatten, so dass ein sehr lebendiges Panorama von Leonardos Welt und Zeit entsteht. Minutiös wird abgehandelt, mit welchen Projekten sich Leonardo in bestimmten Phasen befasste, an welchen Orten er lebte und welche Kontakte und Einflüsse dort auf ihn wirkten. Immer wieder zitiert Nicholl auch aus Leonardos eigenen Schriften, die verblüffend persönliche Einblicke gestatten (sei es, dass der Meister sich bitter über das Verhalten seines Schülers, Mitarbeites und womöglich auch Geliebten Salaì beklagt, sei es, dass er darauf hinweist, seine Notizen nun abbrechen zu müssen, weil die Suppe kalt wird).
Manchmal schießt dieser Versuch, den ganzen Menschen Leonardo zu erfassen, etwas über das Ziel hinaus (wenn Nicholl sich etwa in recht spekulativen Überlegungen zu Zusammenhängen zwischen Leonardos Interesse an Vögeln und am Fliegen allgemein und seinem möglicherweise schwierigen Verhältnis zu seiner Mutter ergeht), aber für diese Abschweifungen in unsichere Gefilde entschädigen die Fülle an Sachinformationen und der reiche Schatz von Abbildungen, die nicht nur Leonardos eigene Kusntwerke zeigen, sondern auch Gebäude und Personen fassbar machen, mit denen er zu tun hatte. Wer auf der Suche nach einer Leonardo-Biographie im klassischen Sinne ist, findet in diesem Buch wohl das kompletteste Lebensbild.

 

3. Stefan Klein: Da Vincis Vermächtnis oder wie Leonardo die Welt neu erfand. Fischer Taschenbuch Verlag 2009, 336 Seiten.
ISBN: 978-3596178803

Einen ganz anderen Ansatz verfolgt der Biophysiker und Wissenschaftspublizist Stefan Klein, der Leonardo vor allem als Forscher und Erfinder in den Mittelpunkt stellt und seine Kreativität nicht auf die Kunst allein reduziert, sondern Neugier und überbordenden Einfallsreichtum in allen Gebieten seines Wirkens gespiegelt sieht. Kleins Buch schärft das Bewusstsein dafür, dass Leonardo von vielen seiner Zeitgenossen gar nicht primär als Maler gesehen, sondern aufgrund seiner anderen Talente geschätzt wurde. Darüber hinaus enthält es zahlreiche interessante Überlegungen zum Denken und zur Auseinandersetzung mit der Welt allgemein, die über Leonardo hinausverweisen und auch heute noch relevante Themen berühren (so etwa die These, dass eine geordnete und streng zweckgebundene Schulbildung, wie sie Leonardo fehlte, Universalgenies vielleicht eher verhindert als schafft). Was hier geboten wird, ist also weniger eine typische Biographie ans eine Einladung, sich Leonardo in mancherlei Hinsicht zum Vorbild zu nehmen und sein Leben und Denken auf die Moderne zu beziehen.

 

4. Ross King: Leonardo und das letzte Abendmahl. Knaus 2014, 448 Seiten.
ISBN: 978-3813503425

Ross King hat schon mehrere Bücher über die italienische Renaissance veröffentlicht und lässt sein breites Wissen über diese Zeit auch in sein Werk über Leonardo einfließen. Der Titel täuscht ein wenig, denn während das berühmte Abendmahlsgemälde tatsächlich einen Schwerpunkt der Betrachtung bildet, ist das Buch zugleich eine recht umfassende Leonardo-Biographie und in einem dritten Strang eine Auseinandersetzung mit Aufstieg und Fall der Sforza in Mailand, unter deren Herrschaft das Bild entstand und in deren Repräsentationskonzept es einzuordnen ist. Gelegentlich merkt man King dabei an, dass er nicht nur Sachbuchautor ist, sondern seine literarische Karriere eigentlich als Romancier begonnen hat, denn statt durchgängig wissenschaftliche Distanz zu wahren, setzt er oft eher auf den Charme der Anekdote oder die Einprägsamkeit starker Bilder. Das führt hier und da zu einem eher undifferenzierten Urteil (wie dem, dass Leonardo als Genie der Welt ein großes Werk „geschuldet“ habe), sorgt aber zusammen mit manch humorvoller Formulierung auch dafür, dass Leonardo und das letzte Abendmahl sich von allen Büchern auf dieser Liste vielleicht am Unterhaltsamsten liest und sicher den lockersten Zugang zu Künstler und Epoche ermöglicht.

Sobald man mehr als ein Buch über Leonardo da Vinci gelesen hat, wird eines übrigens schnell deutlich: Mehr noch als bei anderen historischen Gestalten gibt es den einen „wahren“ Leonardo nicht, und das nicht nur, weil es wahrscheinlich ein Universalgenie von seinem Kaliber erfordern würde, seine breitgefächerten Kenntnisse, Fähigkeiten und Interessen wirklich umfassend und ausgewogen zu würdigen. Zu umstritten sind aufgrund der schwierigen Quellenlage auch schon ganz banale Einzelheiten (so etwa die soziale Stellung seiner Mutter Caterina, die ihn als uneheliches Kind zur Welt brachte – war sie eine toskanische Bäuerin oder eine Sklavin nahöstlicher Herkunft?). Doch gerade, weil manches wohl für immer Konjektur oder Spekulation bleiben muss, lohnt sich die Auseinandersetzung mit den zahlreichen unterschiedlichen Ansätzen, deren Schnittmenge vielleicht näher an die historische Wirklichkeit führt, als eine einzelne Perspektive es je könnte.


Genre: Biographie