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Maria Sibylla Merian. Künstlerin, Forscherin, Geschäftsfrau

Am 13. Januar 1717 starb in Amsterdam Maria Sibylla Merian, und ihr 300. Todestag mag mit ein Anlass für die versierte Biographin Barbara Beuys gewesen sein, sich in einem lesenswerten, reich bebilderten Buch mit der – so der Untertitel – Künstlerin, Forscherin, Geschäftsfrau zu befassen.
Als Tochter des berühmten Kupferstechers Matthäus Merian des Älteren wurde Maria Sibylla Merian 1646 in Frankfurt am Main geboren. Früh Halbwaise wurde sie durch ihren Stiefvater im Zeichnen und Malen ausgebildet und heiratete 1665 dessen Schüler Johann Andreas Graff. Wenige Jahre später zog sie mit ihm nach Nürnberg, wo sie sich nicht nur als Kunstlehrerin und durch die Veröffentlichung von Blumendarstellungen einen Namen machte, sondern auch ihrem Hauptinteresse nachging: der Erforschung von Raupen und ihrer Metamorphose zu Schmetterlingen. Mit ihren ab 1679 publizierten Illustrationen und Forschungsberichten leistete sie auf diesem Gebiet Pionierarbeit.
Nach dem Tod ihres Stiefvaters mit ihrer Familie nach Frankfurt zurückgekehrt, schloss sie sich 1685 zusammen mit ihrer verwitweten Mutter und ihren beiden Töchtern in den Niederlanden der Sekte der Labadisten an – ein Schritt, der zur Trennung und schließlich zur Scheidung von ihrem Mann führte. Nachdem ihre Mutter gestorben war, löste Merian sich 1691 wieder von den religiösen Gemeinschaft und zog mit ihren Töchtern nach Amsterdam, wo sie als Künstlerin und Händlerin für Malerbedarf und Insektenpräparate neue Erfolge feierte. 1699 reiste sie mit ihrer jüngeren Tochter nach Surinam, um auch die dortige Insektenwelt zu erforschen. Eine Malariaerkrankung zwang sie, 1701 früher als geplant zurückzukehren, und sollte sich für den Rest ihres Lebens negativ auf ihre Gesundheit auswirken. Dennoch setzte sie ihre Arbeit bis zu einem Schlaganfall, dessen Folgen ihre letzten Lebensjahre prägten, unermüdlich fort und fand über ihren Tod hinaus Anerkennung als Künstlerin und Wissenschaftlerin.
Dieses bewegte und erfüllte Leben und seine Stationen bettet Barbara Beuys in ein Panorama seines Umfelds ein. Man erfährt nicht nur viel über die Menschen, mit denen Merian an den unterschiedlichsten Orten in Kontakt stand, sondern auch über das späte 17. und frühe 18. Jahrhundert allgemein. Interessant ist in diesem Zusammenhang etwa die Information, dass Merian zwar außerordentlich begabt war, als berufstätige Frau in ihrer Epoche aber keine Ausnahme darstellte, da es in Künstlerfamilien durchaus nicht unüblich war, auch Töchter auszubilden. Ungewöhnlich bleibt dagegen, dass Merian sich als Autodidaktin mit der Insektenforschung ein Gebiet erschloss, das damals noch in den Kinderschuhen steckte und durch sie entscheidend vorangebracht wurde.
Beuys schreibt mit erkennbarer Sympathie für ihre Heldin. Einerseits gelingt ihr so eine ansprechende und mitreißende Annäherung, andererseits hat man aber das Gefühl, dass bisweilen etwas mehr Distanz gutgetan hätte. Denn die Schattenseiten von Merians Persönlichkeit und Lebensweg werden kaum hinterfragt, wenn nicht gar etwas beschönigt. So wird ihre neutrale bis gleichgültige Haltung der Sklaverei in Surinam gegenüber eher entschuldigt als erklärt, und an ihrer Hinwendung zu den Labadisten wird vor allem die selbstbewusste Trennung von ihrem Ehemann herausgestrichen. Abgesehen von dieser manchmal etwas zu unkritischen Perspektive fallen auch einige Flüchtigkeitsfehler negativ auf (so wird im Fließtext etwa der dänische König Christian V. durchgängig falsch als Christian IV. bezeichnet, im Register dagegen richtig als Christian V.).
Trotz dieser Einschränkungen lohnt es sich aber, der flüssig und angenehm zu lesenden Biographie eine Chance zu geben, gerade auch, wenn man das Genre sonst aus Angst vor zu trockener Wissenschaftlichkeit eher meidet. Denn anregend und niemals langweilig ist die Lektüre allemal, und als Ausgangspunkt für eine genauere Beschäftigung mit Maria Sibylla Merian und ihrer Zeit unbedingt geeignet.

Barbara Beuys: Maria Sibylla Merian. Künstlerin, Forscherin, Geschäftsfrau. Berlin, Insel, 2016, 285 Seiten.
ISBN: 978-3458361800


Genre: Biographie

Bach. Musik für die Himmelsburg

Die Zahl 14 spielte eine große Rolle für Johann Sebastian Bach (1685-1750), betrachtete er sie doch als Quersumme aus seinem Nachnamen (B=2, A=1 etc.). Die Spielereien, die der Komponist damit in seinen Stücken betrieb, greift John Eliot Gardiner subtil auf, indem er Bach. Musik für die Himmelsburg in 14 Kapitel unterteilt. Diese Mischung aus wacher Beobachtungsgabe und tiefem Verständnis prägt den Ton der gesamten anspruchsvollen Biographie, der es bei aller Detailverliebtheit nie an Humor und Menschlichkeit fehlt.
Die durchweg überzeugende Qualität des Buchs ist sicher auch der Tatsache zu verdanken, dass Gardiner nicht nur einer der profiliertesten Bach-Interpreten ist, sondern vor seiner endgültigen Hinwendung zu einer Musikkarriere auch mehrere Semester Geschichte studiert hat. Neben der musikwissenschaftlichen Perspektive, die sich in liebevollen Werkanalysen insbesondere der Johannes- und Matthäuspassion und der h-Moll-Messe niederschlägt, ist immer auch die Sicht des Historikers präsent, der seinen Protagonisten gekonnt in den kulturgeschichtlichen Kontext einzuordnen weiß.
In eine weitverzweigte Musikerfamilie hineingeboren, aber früh verwaist, erhielt Bach zunächst von seinem älteren Bruder Johann Christoph und danach als Chorschüler in Lüneburg eine gründliche musikalische Ausbildung. Nach wechselnden Organistenstellen und einer Zeit des Wirkens in Adelsdiensten in Weimar und Köthen hatte er von 1723 bis zu seinem Tode den Posten des Thomaskantors in Leipzig inne, das Amt, mit dem er heute wohl am stärksten assoziiert wird.
Während trotz beträchtlicher Verluste umfangreiche Teile seines kompositorischen Schaffens überliefert sind, ist der Mensch Bach, der bei privater Korrespondenz eher schreibfaul war, weit schwieriger zu fassen, wie Gardiner gerade im Vergleich mit anderen ungefähr gleichaltrigen Musikern (z.B. Georg Friedrich Händel, Georg Philipp Telemann, Jean-Philippe Rameau oder Domenico Scarlatti) zu belegen weiß. Die Persönlichkeit, die sich beim genauen Hinsehen aus den Quellen herausschält, ist nicht ohne Widersprüche: Einem bisweilen jähzornigen und arroganten Mann, der gerade in jungen Jahren mehrfach in Tätlichkeiten verwickelt war, später mit Arbeitgebern und Kollegen im Dauerstreit lag und wohl auch nicht davor zurückschreckte, die Haushaltsbücher zu fälschen, um die eigene Frau über kostspielige Buchkäufe zu täuschen, steht ein tiefreligiöser und berückend sensibler Künstler gegenüber, der äußerst einfühlsam Worte, Gefühle und Musik zu verbinden verstand.
Obwohl auch weltliche Stücke zur Sprache kommen, deren Aufführung oft genug nicht etwa an Fürstenhöfen, sondern in Leipziger Kaffeehäusern stattfand, gilt Gardiners Hauptaugenmerk Bachs geistlichen Werken, insbesondere auch seinen Kantaten. Interesse an der Musik selbst und an den mit ihr verbundenen Glaubensinhalten sollte man bei der Lektüre durchaus mitbringen, denn beide Aspekten werden gerade in den späteren Kapiteln bis in alle Einzelheiten beleuchtet (wobei im Zweifelsfalle ein Glossar beim Verständnis musikalischer Fachbegriffe hilft). Die Himmelsburg des Untertitels bezieht sich nicht ausschließlich auf eine von Bachs Wirkungsstätten (eine heute zerstörte Weimarer Schlosskirche gleichen Namens); zentraler ist die  übertragene Bedeutung.
Dabei gibt es manch Unerwartetes und Erstaunliches zu erfahren, so etwa, dass Bach aufgrund bestimmter theologischer Aussagen, die in seinen Stücken mitschwangen, in Konflikt mit der eher konservativen Leipziger Geistlichkeit geriet, der sein Blickwinkel zu originell und radikal war. Deutlich wird aber zugleich, dass dennoch gerade Leipzig Bach Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten bot, die er anderswo vermutlich nicht gehabt hätte, so dass sein Werk nicht losgelöst von seiner beruflichen Laufbahn betrachtet werden kann.
Dass sich dies alles wunderbar flüssig und anregend liest, ist in der deutschen Fassung auch der Übersetzung von Richard Barth zu verdanken, die einen über weite Strecken vergessen lässt, dass man es mit einem im Original auf Englisch verfassten Buch zu tun hat.
Abgerundet wird der Band durch eine Fülle von Abbildungen, die nicht immer nur rein illustrierende Funktion haben, sondern teilweise selbst zum Objekt spannender Interpretationen werden. Eines der wiedergegebenen Kunstwerke – ein Aquarell der Thomaskantorei von Felix Mendelssohn Bartholdy – bringt den Autor zu dem Urteil, Mendelssohn sei „auf jedem Gebiet (…), dem er sich zuwandte“, begabt gewesen. Das möchte man nach der Lektüre auch Gardiner selbst bescheinigen, denn eine so brillante Annäherung an Bach, wie er sie hier vorlegt, ist vielleicht noch niemandem sonst gelungen.

John Eliot Gardiner: Bach. Musik für die Himmelsburg. München, Hanser, 2016, 735 Seiten.
ISBN: 9783446246195

 


Genre: Biographie, Kunst und Kultur

Cicero

Über Cicero (106-43 v.Chr.) ist viel geschrieben worden – auch und vor allem, weil er selbst außergewöhnlich viel geschrieben hat. Neben seinen Reden und philosophischen Texten sind auch unzählige seiner Briefe überliefert, so dass wir heute besser über ihn informiert sind als über die meisten anderen Menschen der Römischen Republik. Nicht nur über seine Karriere als Anwalt, seine politische Laufbahn mit allen Höhepunkten und Niederlagen (bis hin zur Verbannung) und über seine Ermordung lassen sich Aussagen treffen, sondern auch über sein Privatleben, von seinen beiden gescheiterten Ehen über das Verhältnis zu seinen Kindern bis hin zu seinen Freundschaften, Vorlieben und Abneigungen. So entsteht das Bild eines Mannes, der sich zwar einerseits durch ein unverhohlenes Geltungsbedürfnis auszeichnete und nach öffentlicher Anerkennung gierte, andererseits aber auch unerwartet tiefgründig, sensibel und humorvoll sein konnte.
Diese Persönlichkeit in all ihren Facetten auf nur gut 170 Seiten einzufangen und in den historischen Kontext einzubetten, erscheint auf den ersten Blick wie eine fast unlösbare Aufgabe. Der Altphilologin Marion Giebel ist das Kunststück dennoch bravourös geglückt, so dass es nicht überrascht, dass ihr Cicero über 30 Jahre nach seinem Erscheinen in einer überarbeiteten Neuauflage noch einmal herausgebracht worden ist. Kenntnisreich stellt sie nicht nur den Lebensweg ihres Protagonisten und sein literarisches Œuvre vor, sondern schlaglichtartig auch die Cicero-Rezeption von der Antike bis in die heutige Zeit. Ihre Lebendigkeit und Unmittelbarkeit gewinnt die Darstellung dabei vor allem aus der Fülle klug ausgewählter Zitate, die überwiegend in der modernen Übersetzung der Verfasserin, in besonders wichtigen Fällen aber auch zweisprachig einschließlich des lateinischen Originals wiedergegeben sind.
So entfaltet sich ein um Cicero als zentrale Person herumkomponiertes knappes Panorama der Geistesgeschichte und politischen Entwicklung der späten Römischen Republik. In ihrer Interpretation der historischen Vorgänge entwickelt Giebel dabei originelle, aber schlüssig begründete Thesen, so z.B. bei ihrer Deutung der Catilinarischen Verschwörung, an der sie Caesar und Crassus aktiver beteiligt sieht, als sonst zumeist angenommen wird.
Ciceros Eintreten für die Hinrichtung prominenter Catilinarier ist sicher einer der dunkelsten Aspekte seines Wirkens. Giebel warnt dennoch davor, diesen drastischen Schritt als Indiz für einen heillos konservativen Cicero zu sehen, der sich mit allen Mitteln an sein politisches Ideal der concordia ordinum – des einträchtigen Zusammenwirkens unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten zum Wohle des Staates – klammerte und sozialreformerischen Tendenzen einen Riegel vorschieben wollte. Vielmehr unterstreicht sie, dass die wahrscheinliche Alternative zum bestehenden System nicht etwa eine gerechtere und freiere Staatsform gewesen wäre, sondern die Dominanz eines machtbewussten Einzelnen, wie sie bald darauf unter Caesar und endgültig unter Augustus durchgesetzt wurde.
Vor diesem Hintergrund erscheint Cicero plötzlich nicht mehr als unkritischer Befürworter einer veralteten Senatsherrschaft, sondern als Kämpfer für den Erhalt einer Republik, die zwar mängelbehaftet, aber immerhin nach den Maßstäben der damaligen Zeit demokratisch war – eine Bewertung, wie sie unter etwas anderer Schwerpunktsetzung auch Wolfgang Schuller in seinem Cicero oder der letzte Kampf um die Republik vorschlägt. Gerade angesichts der heutigen weltpolitischen Situation, in der vielerorts wieder der kurzsichtige Ruf nach einem starken Mann laut wird, der die Verhältnisse ändern soll, ist dieser Aspekt sehr bedenkenswert.
Abgerundet wird das Bändchen durch zahlreiche Abbildungen. Neben einzelnen Schauplätzen von Ciceros Leben und antiken Porträts ist auch die Rezeptionsgeschichte reich vertreten, wobei manch eine ahistorische Cicero-Darstellung aus Mittelalter und früher Neuzeit einen zum Schmunzeln bringen kann (insbesondere der sich den langen Bart raufende Cicero aus dem Chorgestühl des Ulmer Münsters).
Doch Cicero ist eben nicht nur spannend und unterhaltsam geschrieben, sondern auch voller Denkanstöße, und so kann die Lektüre uneingeschränkt allen empfohlen werden, die einen ersten Zugang zu dem berühmten Redner suchen oder vorhandene Kenntnisse auffrischen wollen.

Marion Giebel: Cicero. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, überarbeitete Neuausgabe 2013 (Original: 1977), 174 Seiten.
ISBN: 9783499507274


Genre: Biographie

Faszination Nijinsky. Annäherung an einen Mythos

Eine Annäherung an einen Mythos verspricht Petra van Cronenburg im Untertitel ihres Buchs über den berühmten Balletttänzer Vaslav Nijinsky (1889-1950), und in der Tat ist das, was sie vorlegt, keine klassische Biographie. Wer mit streng chronologisch organisierter Wissenschaftsprosa rechnet, die den Werdegang ihres Protagonisten von der Wiege bis zur Bahre nachzeichnet, erlebt hier eine Überraschung. Denn was mit Nijinskys skandalumwitterter erster Choreographie L’Après-midi d’un faune (1912) einsetzt, macht das Schreiben über die Kunst selbst zum Kunstwerk.
In drei „Hefte“ aufgeteilt und mit Zitaten von Zeitgenossen durchflochten bietet der auch typographisch liebevoll gestaltete Band zunächst ein Lebensbild Nijinskys, um dann in ausführlichen Interviews mit dem Ballettdirektor Ralf Rossa und dem Kunsthistoriker Michael Braunsteiner Nijinsky als Tänzer und als bildenden Künstler in den Blick zu nehmen (Abbildungen von Nijinskys eigenem zeichnerischen Schaffen sind übrigens das Einzige, was man in dem mit einer Fülle von Fotos des Tänzers und der Privatperson illustrierten Buch ein wenig vermisst).
Kaleidoskopartig entwickelt sich aus vielen Einzelbeobachtungen und unterschiedlichen Perspektiven das sensible Porträt eines Menschen, der zwar als Ausnahmekünstler das Ballett revolutionierte, aber seinen eigentlichen Wunsch nie erfüllt sah, nicht primär intellektuell verstanden, sondern emotional angenommen zu werden. Umso passender und berührender sind die intensiven Schilderungen im biographischen Teil, die über weite Strecken zum Mitempfinden anregen.
Mitempfinden heißt in diesem Fall auch und vor allem Mitleiden, denn ein glückliches Leben führte Nijinsky nicht, und das nicht nur, weil er den Starrummel um seine Person schlecht verkraftete und es sich und seinem Umfeld als Perfektionist mit ambitionierter künstlerischer Vision oft alles andere als leicht machte. Schon als junger Ballettschüler in Russland aufgrund seiner außergewöhnlichen Begabung Neid und Anfeindungen ausgesetzt, geriet er in seinem Privatleben immer wieder in zwiespältige Liebesbeziehungen. So förderte zwar der wesentlich ältere Sergej Diaghilew als Impresario der Ballets Russes die Karriere seines jungen Geliebten, dominierte ihn aber auch und nutzte ihn aus. Auch Nijinskys überstürzt geschlossene Ehe mit seiner zudringlichen Verehrerin Romola de Pulszky, die wohl eher ihr Idealbild von ihm als den realen Menschen liebte, war auf die Dauer kein Glücksgriff, sondern begünstigte seine als Schizophrenie fehldiagnostizierten Depressionen. Durch eine Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg noch zusätzlich gebeutelt, glitt er ab 1919 immer tiefer in seine psychische Erkrankung ab und war jahrzehntelang fragwürdigen Therapien ausgesetzt, die ihn auch körperlich zugrunde richteten.
Während seiner kurzen aktiven Zeit jedoch faszinierte er sein Publikum als Tänzer nicht nur durch seine überragende Körperbeherrschung und seine androgyne erotische Ausstrahlung, sondern ging auch das Risiko ein, das Ballett mit provokanten Darbietungen aus dem Bereich der gefälligen Unterhaltung zu lösen und als eigenständige Kunstform in die Moderne zu führen.
Petra van Cronenburgs großes Verdienst ist es in diesem Zusammenhang, Nijinsky nicht etwa isoliert zu betrachten, sondern ihn in den Kontext der grenzübergreifenden europäischen Kulturszene einzufügen, der der Erste Weltkrieg schon einen entscheidenden Schlag versetzte und die mit dem Zweiten Weltkrieg endgültig unterging (wie von Volker Weidermann in Ostende eingefangen). Anhand herausragender Einzelwerke wie Thomas Manns Tod in Venedig und ganzer Strömungen wie der erwachenden Begeisterung für vor- und frühgeschichtliche Kunst wird der geistige Kosmos, in dem Nijinsky sich bewegte, feinfühlig umrissen. Gelegentlich geht der Blick sogar über den Atlantik, denn selbst Charlie Chaplin blieb von Nijinsky nicht unbeeinflusst.
So ist die Lektüre nicht nur für Ballettinteressierte eine große Bereicherung, sondern wirft auch ein Schlaglicht auf eine Epoche, der die brutalen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts den Todesstoß versetzten, die aber immer noch immensen Einfluss auf unser heutiges Kunst- und Kulturverständnis hat. Nijinskys Tragik verweist damit über sein individuelles Schicksal hinaus auf größere Zusammenhänge, deren Kenntnis gerade angesichts unserer unruhigen Gegenwart lehrreicher und wichtiger denn je ist.

Petra van Cronenburg: Faszination Nijinsky. Annäherung an einen Mythos. Münster, Edition Octopus (Monsenstein und Vannerdat), 2011, 128 Seiten.
ISBN: 9783869913629


Genre: Biographie, Kunst und Kultur

Attila. Der Schrecken der Welt

Von allen Herrschergestalten der Völkerwanderungszeit hat sich Attila bis heute den größten Bekanntheitsgrad bewahrt. Ob als Etzel des Nibelungenlieds oder als archetypischer barbarischer Eroberer, mit dessen Schandtaten die moderner Politiker und Militärs verglichen werden – in irgendeiner Gestalt ist er wohl jedem schon einmal begegnet. Mit diesen heutigen Erinnerungen an Attila und seine Hunnen setzt Klaus Rosen dementsprechend auch ein, um sich erst dann der historischen Persönlichkeit und ihrem Umfeld zuzuwenden.
Obwohl das Buch auf dem Umschlag als „Biographie“ beworben wird, sollte man den Begriff nicht allzu eng auslegen. Für den einer schriftlosen Kultur entstammenden Attila ist die Quellenbasis naturgemäß schmaler als für Zeitgenossen wie etwa Augustinus, die auch umfangreiche Selbstzeugnisse hinterlassen konnten, und zudem durch die Perspektive seiner Gegner geprägt. So wäre es vielleicht treffender, hier von einer Geschichte der Hunnen unter besonderer Berücksichtigung ihres berühmtesten Königs zu sprechen.
Über dessen Kindheit und Jugend ist kaum etwas bekannt. Aus dem Dunkel der Geschichte trat er erst hervor, als er gemeinsam mit seinem älteren Bruder Bleda im Jahre 434 als Nachfolger seines Onkels Rua die Herrschaft über die Hunnen übernahm und durch die Hinrichtung missliebiger Verwandter gleich bewies, dass mit ihm nicht zu spaßen war.
Diese Skrupellosigkeit sollte auch weiterhin für ihn charakteristisch bleiben: Durch die Ermordung Bledas zum Alleinherrscher aufgestiegen, vermochte er die hunnische Vorherrschaft im Karpatenbecken dank militärischer Erfolge, ungleicher Bündnisse und einer polygamen Heiratspolitik zu einem wahren Vielvölkerreich auszubauen, dem er allerdings nie eine über die Gefolgschaftsbindung an seine Person hinausgehende Struktur verleihen konnte oder wollte. Lange Zeit als Anführer von Raubzügen gegen das in Ost und West zerfallene Römische Reich gefürchtet, agierte er ausgerechnet bei den Unternehmungen, die seinen Ruf als „Schrecken der Welt“ zementieren sollten, eher glücklos: dem Einfall nach Gallien, der in der berühmten Schlacht auf den Katalaunischen Feldern 451 mit einer Niederlage für ihn endete, und dem nach anfänglichen Siegen abgebrochenen Angriff auf Italien unmittelbar danach.
Diese Misserfolge durch einen Feldzug gegen Ostrom wieder wettzumachen, gelang ihm nicht mehr, da er in seiner letzten Hochzeitsnacht 453 eines plötzlichen, wenn auch natürlichen Todes starb. Seinen Söhnen war es nicht vergönnt, sich die von ihm angehäufte Machtfülle zu erhalten, so dass sein Ende zugleich auch den Beginn des Absinkens der Hunnen in die politische Bedeutungslosigkeit einläutete.
Eingebettet ist diese Lebensschilderung in überzeugende Analysen der spätantiken Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten. Vom Römischen Reich, das – so der Autor pointiert – den an seiner Peripherie Lebenden als „Vorratskammer mit Selbstbedienung“ erschien, versuchten viele in irgendeiner Form zu profitieren, doch für diejenigen, die z.B. als Foederaten eine Einbindung in seine Ordnungssysteme erfuhren, waren die Aussichten auf langfristig stabile Verhältnisse deutlich größer als für einen extrem durch personale Herrschaft und das Charisma Einzelner geprägten Verband wie die Hunnen.
Es ist ein Glücksfall, dass dieses so spannende Thema hier eine besonders mitreißende und angenehm zu lesende Umsetzung erfährt. Klaus Rosen verfügt bei aller Quellenkritik und gebotenen Distanz zum Gegenstand über eine Fähigkeit, die vielen anderen Historikern leider fehlt: Er ist ein hervorragender Erzähler, der aus Geschichte zugleich eine Geschichte zu machen versteht. Gerade an den Stellen, an denen er dem Bericht des Priscus über eine oströmische Gesandtschaft zu Attila folgt, ist man fast wie bei einem Roman mitten im Geschehen. Auch wenn man – bei bekannten historischen Ereignissen unvermeidlich – im Voraus weiß, wie sich alles entwickeln wird, ertappt man sich oft dabei, gebannt weiterzulesen und die schöne Lektüre nicht aus der Hand legen zu wollen.
So ist Attila. Der Schrecken der Welt am Ende vor allem eines: ein Buch, das einem ins Gedächtnis ruft, was für ein wunderbares Abenteuer Geschichte sein kann.

Klaus Rosen: Attila. Der Schrecken der Welt. München, C. H. Beck, 2016, 320 Seiten.
ISBN: 9783406690303


Genre: Biographie, Geschichte

Freiherr vom Stein. Preußens Reformer und seine Zeit

Den Stein-Hardenberg’schen Reformen entkommt man im schulischen Geschichtsunterricht nicht, aber über die Menschen, die hinter diesen Maßnahmen standen, erfährt man in aller Regel nur sehr wenig. Heinz Duchhardts Kurzbiographie Freiher vom Stein. Preußens Reformer und seine Zeit (die auf dem ausführlicheren Werk des Verfassers zum selben Thema beruht) schafft Abhilfe, was einen der beiden Herren betrifft.
Wer also war jener Heinrich Friedrich Karl vom Stein, der einem diffus als Reformer und vielleicht auch noch als Begründer der bis heute Maßstäbe setzenden Quellenedition Monumenta Germaniae Historica ein Begriff ist?
In Duchhardts vor allem auf den Politiker Stein ausgerichteter Biographie, in der sein Elternhaus ebenso wie seine Frau und seine beiden Töchter eher eine Nebenrolle spielen, tritt Stein einem als Mann nicht ohne Widersprüche entgegen, administrativ klug, aber beileibe kein Diplomat und auf Neuerungen nicht um ihrer selbst willen erpicht, sondern aus einer letztlich zutiefst konservativen Sehnsucht nach einer idealisierten guten alten Zeit heraus. In eine kinderreiche Reichsritterfamilie hineingeboren und von den Eltern aus bis heute ungeklärten Gründen zum Alleinerben bestimmt, obwohl er nicht der älteste Sohn war, zeigte Stein schon in seinem Studium in Göttingen historisches Interesse. Seine Entscheidung, in preußische statt, wie in der Familie üblich, in Mainzer oder kaiserliche Dienste zu treten, lag wohl unter anderem darin begründet, dass er dort Anpassungsdruck und absolutistische Tendenzen für geringer ausgeprägt hielt als in anderen deutschen Staaten. Während erster Verwaltungstätigkeiten in Westfalen sammelte Stein Erfahrungen mit dort erhaltenen Elementen des vorabsolutistischen Ständestaats, die ihn tief beeindruckten und seine Ablehnung zentralistischer Tendenzen zugunsten stärkerer Bürgerbeteiligung und lokaler Eigenständigkeit prägten.
Sein 1804 übernommenes erstes Ministeramt wurde Stein im Zuge des desaströsen Kriegsausbruchs 1806 nicht zuletzt aufgrund seines wenig umgänglichen Auftretens König Friedrich Wilhelm III. gegenüber wieder los. 1807 abermals zum Minister berufen führte er die Reformen durch, für die er berühmt werden sollte, die aber nur teilweise auf seinen ureigensten Ideen beruhten. Während er z.B. Maßnahmen wie die Bauernbefreiung zwar mittrug, waren sie für sein eigenes Denken weniger zentral als das Bemühen, die Verantwortung des einzelnen Bürgers für das Gemeinwesen zu stärken und ihm insbesondere im Rahmen der lokalen Verwaltung Partizipationsmöglichkeiten zu verschaffen. Von einer allgemeinen Demokratisierung waren Steins Vorstellungen dabei weit entfernt. Vielmehr ist ihnen eine paternalistische Tendenz nicht abzusprechen, die vor allem die besitzenden Bürger in die Pflicht nahm und verrät, dass Stein eher die Rückbesinnung auf eine geschönte Vergangenheit umtrieb als die Orientierung an aufklärerischen Idealen.
Bei der Umsetzung seiner Überlegungen fehlte es Stein teilweise an Fingerspitzengefühl, und so machte sich mehrfach unnötig Gegner. Duchhardt spart dabei nicht mit amüsanten Details; so erfährt man z.B., dass der christlich-sittenstrenge Stein den in der Erinnerung auf ewig mit ihm verbundenen Hardenberg und dessen lockeren Lebenswandel persönlich wenig schätzte. Angesichts des Widerstands, den Stein oft geradezu herausforderte, ist es kein Wunder, dass seine Vision für eine Umformung des Staats nur in Teilen Wirklichkeit wurde (so gelang ihm zwar eine Städteordnung, nicht aber die Durchsetzung einer umfassenden Verwaltungsreform auch für ländliche Gebiete).
Aufgrund eines publik gewordenen napoleonkritischen Briefs politisch untragbar geworden und später gar zur Flucht gezwungen verlagerte Stein in der Folgezeit seine politischen Aktivitäten vor allem im Dienst des russischen Zaren auf die Agitation gegen Napoleon und die Förderung der Koalition gegen Frankreich. Seine Tragik liegt vielleicht darin, dass er zwar damit zum Erfolg der Befreiungskriege beitrug, deren Einmünden in die Restauration und eine Stärkung staatlicher Zwänge seinen Überzeugungen zuwiderlief.
Im Alter war er nur noch mit mäßigem Erfolg regionalpolitisch tätig und flüchtete sich in eine Verklärung sowohl der Befreiungskriege als auch des Hochmittelalters, das er als Höhepunkt deutscher Geschichte betrachtete. Dass ausgerechnet diese Romantisierung ihn 1819 zur Gründung der „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde“ motivierte, die als Herausgeberin der für die kritische Beschäftigung mit der Geschichte so wichtigen Monumenta Germaniae Historica fungierte, ist eine charmante Ironie.
Bei Steins Tod 1831 kam es zwar zu Trauerbekundungen der Bevölkerung, doch ins Konzept der preußischen Regierung passte er zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr.
Originell und zugleich überzeugend ist Duchhardts Überlegung, dass vielleicht gerade dieses partielle Scheitern dafür sorgte, dass Stein postum von verschiedenster Seite viel Sympathie entgegengebracht wurde und politisch völlig konträr ausgerichtete Gruppen versuchten, das Gedenken an ihn jeweils zu vereinnahmen. Diese Erinnerungskultur sieht Duchhardt mittlerweile im Schwinden begriffen, doch wenn man bedenkt, dass mit dem berühmten Namen im Laufe der Zeit auch viel Schindluder getrieben wurde, weiß man nicht recht, ob man das bedauern sollte.
Obwohl Duchhardt seinen Protagonisten also durchaus realistisch sieht, folgt die Biographie dem in den letzten Jahren vestärkt zu beobachtenden Trend, die überkritische Deutung, die manche historische Persönlichkeit in der modernen Geschichtswissenschaft erfahren hat (man denke etwa an Wehlers vernichtende Einschätzung Steins in seinem Standardwerk zur Deutschen Gesellschaftsgeschichte), zu hinterfragen und anstelle einer Bewertung primär nach heutigen Kriterien den Versuch zu setzen, den Menschen aus seiner Zeit heraus zu verstehen. Diese Relativierung pauschaler Negativurteile gereicht dem Werk nicht zum Nachteil.
Um die Lektüre voll und ganz genießen zu können, schadet es nicht, ein paar Vorkenntnisse zum Napoleonischen Zeitalter mitzubringen. In etwa sollten einem die grundlegenden politischen und militärischen Entwicklungen (und idealerweise auch die Namen einiger Adelshäuser und Einzelpersonen) präsent sein, denn während das Bändchen hervorragend als erste Annäherung an den Freiherrn vom Stein funktioniert, ist es eindeutig keine Einführung in seine im Titel ebenfalls beschworene Zeit.

 

Heinz Duchhardt: Freiherr vom Stein. Preußens Reformer und seine Zeit. C.H. Beck, München 2010, 127 Seiten.
ISBN: 978-3406587870.


Genre: Biographie

Philipp II. von Makedonien

In der allgemeinen Wahrnehmung ist Philipp II. von Makedonien vor allem eines – der Vater Alexanders des Großen, der oft als der ungleich bedeutendere Herrscher betrachtet wird. Jörg Fündling beweist in seiner packend geschriebenen und gut lesbaren Biographie Philipps, dass dieser verkürzte Blickwinkel dem facettenreichen Makedonenkönig nicht gerecht wird, der wesentlich mehr zu bieten hatte, als nur Wegbereiter seines Nachfolgers zu sein.
Eine große Zukunft war Philipp nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Als vermutlich sechster Sohn des in Polygamie lebenden und entsprechend kinderreichen Makedonenkönigs Amyntas III. wurde er in eine Zeit hineingeboren, in der das Überdauern der Herrschaft der Argeaden mehr als einmal am seidenen Faden hing. Während nacheinander zwei seiner Brüder dem Vater als Könige nachfolgten, wurde der jugendliche Philipp als Geisel nach Illyrien und später nach Theben gegeben. Erst nach dem überraschenden Tod seines Bruders Perdikkas auf einem Feldzug gelangte Philipp unter Verdrängung eines Neffen an die Macht, wobei ungeklärt ist, ob er von Anfang an den Königstitel führte oder zunächst nur als Regent fungierte. Beneidenswert war seine Lage jedenfalls nicht: Zwischen den kriegerischen Illyrern und Thrakern einerseits und der griechischen Poliswelt andererseits überwiegend im Binnenland eingezwängt, war Makedonien ein vergleichsweise rückständiger Landstrich, der bis auf seine Wälder, deren Holz für Schiffbau und Waffenherstellung begehrt war, und noch fast unerschlossene Metallvorkommen wenig zu bieten hatte. Obwohl sich die makedonischen Herrscher als Hellenen zu gerieren versuchten und sich gar einer Abstammung von Herakles rühmten, galten sie aus griechischer Sicht aufgrund ihrer Vielweiberei, ihrer rauen Sitten und ihres Lebens an der Peripherie Europas überwiegend als Barbaren.
Vordergründig schien Philipp dem Klischee zu entsprechen: Auch er war mit zahlreichen Frauen gleichzeitig verheiratet (unter denen die Molosserin Olympias, die Mutter Alexanders des Großen, durch ihre politischen Aktivitäten und nicht zuletzt auch ihre Konflikte mit ihrem Ehemann besonders hervorsticht), repräsentierte mittels verschwenderischer Gelage und führte seine zahlreichen Kriege gegen die Nachbarvölker nicht nur als Stratege, sondern auch unter erheblichem persönlichen Einsatz, der ihn ein Auge kostete und ihm nach und nach eine Reihe anderer Verwundungen bescherte, die seine Gesundheit dauerhaft angriffen.
Daneben erwies er sich jedoch als äußerst geschickt darin, sein Land wirtschaftlich und militärisch zu stärken: Ein Vorantreiben der Urbanisierung und des Bergbaus und nicht zuletzt die Eroberung von Häfen schufen die Voraussetzungen für eine Anbindung an überregionale Handelsnetze, während der Aufbau einer Flotte und die Ausrüstung der Armee mit Sarissen – überlangen Lanzen, die dank des Holzreichtums der Region billig zu haben waren und taktische Vorteile den üblichen Hoplitenheeren gegenüber boten – dabei halfen, das kriegerische Potential der Makedonen besser als zuvor zu nutzen. Die gesteigerte Schlagkraft seiner Kämpfer war für Philipp in zahlreichen kleinen und großen Kriegen nützlich, die ihn aber letzten Endes doch finanziell überforderten (so hinterließ er seinem Nachfolger wohl nur geringe Mittel, wenn nicht gar Schulden).
Die verwirrende Fülle von militärischen Aktivitäten, bei denen Verbündete und Gegner ständig wechselten, veränderte die griechische Welt unwiderruflich und kulminierte schließlich in der Schlacht von Chaironeia (338 v. Chr.), in der Philipp eine Allianz aus Athen, Theben und kleineren Poleis besiegte und so die Hegemonie über ganz Griechenland erlangte. Sein letztes politisches Großprojekt war die Planung eines Feldzugs gegen das Perserreich, auf den er jedoch selbst nicht mehr aufbrechen konnte: Auf dem Höhepunkt seiner Macht wurde er ermordet.
Wie bei Persönlichkeiten der Antike aufgrund der relativen Quellenarmut unvermeidlich, kann die Biographie Philipp nicht immer dichtauf folgen. Stattdessen zeichnet sie über weite Strecken minutiös die Entwicklungen nach dem Ende des Peloponnesischen Kriegs nach, die von einer zumindest in der Rückschau bisweilen erratisch erscheinenden und eher auf die Erlangung kurzfristiger Vorteile als auf ein übergeordnetes Konzept ausgerichteten Politik der einzelnen Poleis und Tyrannen geprägt waren. Besonders Philipps bekanntester Gegenspieler, der athenische Staatsmann und Redner Demosthenes, machte dabei nicht immer eine glückliche Figur.
Allerdings resultierte laut Fündling auch die Tatsache, dass es Philipp gelang, Makedonien vom recht unbedeutenden Königreich zur Großmacht zu machen, nicht aus der zielstrebigen Verfolgung eines wie auch immer gearteten Masterplans, sondern war viel eher einer opportunistischen Ausnutzung der sich bietenden Chancen zu verdanken, zum Teil vielleicht auch dem Zwang, durch permanente Kriege einerseits den Beutehunger der makedonischen Oberschicht zu befriedigen und andererseits den eigenen Ruf zu wahren.
Obwohl also der große historische Kontext in seiner Bedeutung angemessen gewürdigt wird, hebt Fündling auch immer wieder die Handlungsspielräume des Individuums hervor. Methodisch beruft er sich dabei auf Martin Jehne, und es fällt auf, dass er bei aller Seriosität in der Sache bisweilen wie dieser einen recht humorvollen Stil pflegt. Wenn er etwa Kapiteltitel wie „Eine Geschichte zweier Städte“ oder „Ein langerwartetes Fest“ wählt, ist überdeutlich, dass hier ein Literaturkenner beschwingt mit den Assoziationen spielt, die diese aus ganz anderen Zusammenhängen bekannten Formulierungen heraufbeschwören.
Dieselbe Bereitschaft, über den Tellerrand der Geschichtswissenschaft hinauszusehen, spricht auch aus der Tatsache, dass neben den Deutungen und Instrumentalisierungen, die Philipp vonseiten der Historiker im Laufe der Jahrhunderte erfahren hat, auch seine Rezeption in der heutigen Populärkultur angerissen wird. Alles in allem ergibt sich so ein sehr differenziertes Bild des Makedonenkönigs, der es – um den Bogen zurück zum Anfang zu schlagen – nicht unbedingt verdient hat, im Vergleich mit seinem berühmteren Sohn den Kürzeren zu ziehen: Ohne auch nur im Entferntesten ein Heiliger zu sein, pflegte Philipp bei aller Brutalität und allem Aufgehen in der Rolle des hypermaskulinen, trink- und kampffreudigen Königs einen maßvolleren und tragfähigeren Umgang mit seinem Umfeld als Alexander, der seine Herrschaft gleich mit einigen Verwandtenmorden begann und in seinem Eroberungs- und Siegesdrang weit umfangreichere Zerstörungen anrichtete als sein Vater.
Die letzten Rätsel um Philipp kann allerdings auch Fündling nicht lösen: Was genau den Leibwächter Pausanias verleitete, den König auf dem Hochzeitsfest seiner Tochter Kleopatra zu erstechen, bleibt ungeklärt, obwohl sich trefflich über Motive und Hintermänner spekulieren lässt, und auch, ob die im großen Tumulus von Vergina (Aigai) gefundenen Gebeine nun Philipp oder einem anderen Vertreter der Argeadendynastie zuzuordnen sind, lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen. Fündling erläutert aber anschaulich, weshalb die Identifikation der Überreste mit dem Makedonenherrscher zur Zeit ihrer Auffindung in den 1970er Jahren in Griechenland politisch hochwillkommen war. Nichts könnte besser verdeutlichen, dass selbst historische Gestalten aus sehr fernen Epochen bis heute relevant sind, und das allein wäre Grund genug, sich mit Philipp zu beschäftigen, wäre er nicht schon aus sich selbst heraus eine im Guten wie im Bösen interessante Persönlichkeit.

Jörg Fündling: Philipp II. von Makedonien. Philipp von Zabern (WBG) 2014, 230 Seiten.
ISBN: 978-3805348225


Genre: Biographie

Buchtipps zu Leonardo da Vinci

Leonardo da Vinci (1452-1519) gehört zu den interessantesten Persönlichkeiten nicht allein der Renaissance, sondern vielleicht aller Zeiten: Seine Kunstwerke, seine naturwissenschaftlichen Forschungen, seine Erfindungen und nicht zuletzt auch sein unangepasster Charakter, der ihn trotz aller Erfolge immer wieder in Konflikte mit Auftraggebern geraten ließ und in mancherlei Hinsicht vielleicht auch innerlich einsam machte, faszinieren bis heute. Die Fülle der Literatur zu einer Ausnahmeerscheinung wie ihm lässt sich kaum überblicken; was folgt, ist also keine umfassende Liste von Leonardo-Biographien, sondern ein kurzer Überblick über vier besonders lesenswerte Titel.

1. Martin Kemp: Leonardo. C. H. Beck 2005, 311 Seiten.
ISBN: 3406534627

Der renommierte Kunsthistoriker Martin Kemp gilt als einer der Leonardo-da-Vinci-Experten schlechthin. Seinem Fach gemäß steht bei ihm Leonardo als Künstlerpersönlichkeit im Vordergrund, deren Leben in einem relativ kurzen Überblick (und im Anhang noch einmal tabellarisch) abgehandelt wird, bevor Kemp sich dem zeichnerischen und malerischen Werk unter verschiedenen thematischen Aspekten zu nähern versucht: So geht es etwa um das Sehen, die Beschäftigung mit Körpern und Maschinen und mit der belebten Welt allgemein, aber auch um narrative Elemente in Bildern. Dabei kommen Leonardos naturwissenschaftliche Interessen und seine Erfindungen zwar nicht zu kurz, aber Fluchtpunkt sind und bleiben das ganze Buch hindurch seine Kunstwerke, insbesondere seine Gemälde, die im Anhang auch noch einmal in einer Übersicht zusammengestellt sind. Leonardos Charaktermerkmale und Forschungsinteressen werden dementsprechend vor allem auf ihren Niederschlag in seiner Arbeit als Zeichner und Maler hin überprüft. Auf diese Weise erfährt man vieles über Leonardos Art des Sehens, seine künstlerischen Techniken und die mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhänge, in denen seine Bilder stehen, darf aber nicht auf allzu detaillierte biographische Informationen hoffen.

 

2. Charles Nicholl: Leonardo da Vinci. Die Biographie. Fischer Taschenbuch Verlag 2009, 752 Seiten.
ISBN: 978-3596169207

Der Untertitel ist Programm: Charles Nicholl zeichnet Leonardos Leben quellennah chronologisch und um äußerste Genauigkeit bemüht nach und stellt auch sein soziales und historisches Umfeld erschöpfend dar. Familie, Lehrmeister, Werkstattangehörige, Auftraggeber und Bekannte werden in allen Einzelheiten präsentiert, so gut es die Quellen irgend gestatten, so dass ein sehr lebendiges Panorama von Leonardos Welt und Zeit entsteht. Minutiös wird abgehandelt, mit welchen Projekten sich Leonardo in bestimmten Phasen befasste, an welchen Orten er lebte und welche Kontakte und Einflüsse dort auf ihn wirkten. Immer wieder zitiert Nicholl auch aus Leonardos eigenen Schriften, die verblüffend persönliche Einblicke gestatten (sei es, dass der Meister sich bitter über das Verhalten seines Schülers, Mitarbeites und womöglich auch Geliebten Salaì beklagt, sei es, dass er darauf hinweist, seine Notizen nun abbrechen zu müssen, weil die Suppe kalt wird).
Manchmal schießt dieser Versuch, den ganzen Menschen Leonardo zu erfassen, etwas über das Ziel hinaus (wenn Nicholl sich etwa in recht spekulativen Überlegungen zu Zusammenhängen zwischen Leonardos Interesse an Vögeln und am Fliegen allgemein und seinem möglicherweise schwierigen Verhältnis zu seiner Mutter ergeht), aber für diese Abschweifungen in unsichere Gefilde entschädigen die Fülle an Sachinformationen und der reiche Schatz von Abbildungen, die nicht nur Leonardos eigene Kusntwerke zeigen, sondern auch Gebäude und Personen fassbar machen, mit denen er zu tun hatte. Wer auf der Suche nach einer Leonardo-Biographie im klassischen Sinne ist, findet in diesem Buch wohl das kompletteste Lebensbild.

 

3. Stefan Klein: Da Vincis Vermächtnis oder wie Leonardo die Welt neu erfand. Fischer Taschenbuch Verlag 2009, 336 Seiten.
ISBN: 978-3596178803

Einen ganz anderen Ansatz verfolgt der Biophysiker und Wissenschaftspublizist Stefan Klein, der Leonardo vor allem als Forscher und Erfinder in den Mittelpunkt stellt und seine Kreativität nicht auf die Kunst allein reduziert, sondern Neugier und überbordenden Einfallsreichtum in allen Gebieten seines Wirkens gespiegelt sieht. Kleins Buch schärft das Bewusstsein dafür, dass Leonardo von vielen seiner Zeitgenossen gar nicht primär als Maler gesehen, sondern aufgrund seiner anderen Talente geschätzt wurde. Darüber hinaus enthält es zahlreiche interessante Überlegungen zum Denken und zur Auseinandersetzung mit der Welt allgemein, die über Leonardo hinausverweisen und auch heute noch relevante Themen berühren (so etwa die These, dass eine geordnete und streng zweckgebundene Schulbildung, wie sie Leonardo fehlte, Universalgenies vielleicht eher verhindert als schafft). Was hier geboten wird, ist also weniger eine typische Biographie ans eine Einladung, sich Leonardo in mancherlei Hinsicht zum Vorbild zu nehmen und sein Leben und Denken auf die Moderne zu beziehen.

 

4. Ross King: Leonardo und das letzte Abendmahl. Knaus 2014, 448 Seiten.
ISBN: 978-3813503425

Ross King hat schon mehrere Bücher über die italienische Renaissance veröffentlicht und lässt sein breites Wissen über diese Zeit auch in sein Werk über Leonardo einfließen. Der Titel täuscht ein wenig, denn während das berühmte Abendmahlsgemälde tatsächlich einen Schwerpunkt der Betrachtung bildet, ist das Buch zugleich eine recht umfassende Leonardo-Biographie und in einem dritten Strang eine Auseinandersetzung mit Aufstieg und Fall der Sforza in Mailand, unter deren Herrschaft das Bild entstand und in deren Repräsentationskonzept es einzuordnen ist. Gelegentlich merkt man King dabei an, dass er nicht nur Sachbuchautor ist, sondern seine literarische Karriere eigentlich als Romancier begonnen hat, denn statt durchgängig wissenschaftliche Distanz zu wahren, setzt er oft eher auf den Charme der Anekdote oder die Einprägsamkeit starker Bilder. Das führt hier und da zu einem eher undifferenzierten Urteil (wie dem, dass Leonardo als Genie der Welt ein großes Werk „geschuldet“ habe), sorgt aber zusammen mit manch humorvoller Formulierung auch dafür, dass Leonardo und das letzte Abendmahl sich von allen Büchern auf dieser Liste vielleicht am Unterhaltsamsten liest und sicher den lockersten Zugang zu Künstler und Epoche ermöglicht.

Sobald man mehr als ein Buch über Leonardo da Vinci gelesen hat, wird eines übrigens schnell deutlich: Mehr noch als bei anderen historischen Gestalten gibt es den einen „wahren“ Leonardo nicht, und das nicht nur, weil es wahrscheinlich ein Universalgenie von seinem Kaliber erfordern würde, seine breitgefächerten Kenntnisse, Fähigkeiten und Interessen wirklich umfassend und ausgewogen zu würdigen. Zu umstritten sind aufgrund der schwierigen Quellenlage auch schon ganz banale Einzelheiten (so etwa die soziale Stellung seiner Mutter Caterina, die ihn als uneheliches Kind zur Welt brachte – war sie eine toskanische Bäuerin oder eine Sklavin nahöstlicher Herkunft?). Doch gerade, weil manches wohl für immer Konjektur oder Spekulation bleiben muss, lohnt sich die Auseinandersetzung mit den zahlreichen unterschiedlichen Ansätzen, deren Schnittmenge vielleicht näher an die historische Wirklichkeit führt, als eine einzelne Perspektive es je könnte.


Genre: Biographie