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Königsdämmerung

Das hier rezensierte Buch ist Teil einer Reihe. Ein weiterer Band ist auf Ardeija.de bereits hier besprochen worden.

Die Begleithefte zur Dauerausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle bieten nicht nur schöne Abbildungen der dort aufbewahrten Funde, sondern sind zugleich auch kleine, kompakte Einführungen in die jeweils vorgestellte Epoche. Der Band Königsdämmerung, in dem Arnold Muhl und Ralf Schwarz sich mit dem kurzlebigen Thüringerreich des Frühmittelalters befassen, bildet da keine Ausnahme.

Nur etwa 80 Jahre oder zwei Königsgenerationen lang, bis zur Eroberung durch die Franken im Jahre 531, bestand das Reich der Thüringer, war aber während seiner Existenz nicht nur durch kriegerische Aktionen, sondern auch durch Migration sowie zahlreiche kulturelle und diplomatische Kontakte in die  Welt seiner Zeit eingebunden, wie vor allem reich mit Beigaben versehene Bestattungen belegen, von denen eine aus dem Ort Stößen mit prächtigem Spangenhelm hier sogar als die des Berthachar, der im 6. Jahrhundert ein thüringisches Teilkönigreich beherrschte, angesprochen wird.

Mag es auch keine letztgültigen Belege für diese Identifizierung geben, ist sie natürlich attraktiv, aber auch abgesehen davon beeindrucken an dem Band vor allem die edel auf schwarzem Hintergrund präsentierten Fundfotos. Eine besondere Rolle spielen dabei die gerade für die Frauentracht bedeutenden und auch als Zugehörigkeits- und Abstammungssymbole genutzten Fibeln, die in großer Auswahl gezeigt werden. Neben diesem prachtvollen Schmuck aus den Gräbern der Oberschicht treten Funde, die Aussagen über das Alltagsleben gestatten, etwas in den Hintergrund, aber es sind auch Gefäße, Kämme, Gegenstände aus dem Bereich der Textilherstellung (wie Spinnwirteln oder Webschwerter), Waffen und Amulettanhänger, die etwas über die Glaubensvorstellungen, bei denen sowohl Paganes als auch Christliches fassbar ist, verraten, im Buch vertreten.

In die Darstellung eingebettet sind immer wieder auch Auszüge aus den Schriftquellen, über denen sich etwas über das Thüringerreich erschließen lässt. Teilweise geschieht das sehr effektvoll. Die Entscheidung, den Band mit Auszügen aus den Klageliedern enden zu lassen, die Venantius Fortunatus aus Perspektive der im Zuge der Eroberung verschleppten und zur Heirat mit dem fränkischen König Chlothar gezwungenen Thüringerprinzessin Radegunde, deren Vertrauter er war, verfasste, macht eindringlich deutlich, wie sehr mit den unruhigen Zeiten der fränkischen Expansion individuelles und kollektives menschliches Leid verbunden war.

Amüsant ist dagegen, dass ein zweimal zitierter Brief des Ostgotenkönigs Theoderich anlässlich der Heirat seiner Nichte Amalaberga mit dem Thüringerkönig Herminafried in zwei sehr verschiedenen Übersetzungen bemüht wird (S. 11 und S. 83, leider ohne direkte Quellenangabe, um welche es sich jeweils handelt – hier muss man angesichts des Literaturverzeichnisses raten). Das hat zwar den Vorteil, erkennbar werden zu lassen, wie viel Interpretation in den Übertragungen historischer Quellen in moderne Sprachen steckt und welche Deutungsspielräume sie daher auch zulassen, überrascht aber in einem an ein allgemeines Publikum gerichteten, eher zur niedrigschwelligen Einführung in das Thema gedachten Werk dann doch.

Von dieser kleinen Merkwürdigkeit abgesehen, bietet Königsdämmerung einen gelungenen Einstieg in die Beschäftigung mit einem frühmittelalterlichen Gemeinwesen, das oft nicht so im Fokus des Interesses steht wie die zeitgleichen gotischen und fränkischen Reichsbildungen.

Arnold Muhl, Ralf Schwarz: Königsdämmerung. Das frühmittelalterliche Thüringerreich. Hrsg. von Harald Meller. Begleithefte zur Dauerausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle Bd. 8. Halle, Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, 2022, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-948618-50-6


Genre: Geschichte

Frühe Kulturen der Ägäis (Band 2)

Das hier rezensierte Buch ist der zweite Band eines zweiteiligen Werks. Die Besprechung von Band 1 ist hier zu finden.

Im zweiten Band seiner Frühen Kulturen der Ägäis konzentriert sich Klaus Tausend auf das mykenische Griechenland, das, wie er in der Einleitung erläutert, auch seinen Forschungsschwerpunkt darstellt (wobei ihn politische und militärhistorische Fragen besonders beschäftigen, was sich auch in der Gewichtung bestimmter Themen im Buch niederschlägt, aber dazu später mehr).

Aufgeteilt ist der Band in zwei große Oberkapitel, deren erstes sich der Ereignisgeschichte widmet, während das zweite Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur der mykenischen Zeit darstellt. Sich den mykenischen Griechen aus ereignishistorischer Perspektive zu nähern, ist dabei kein einfaches Unterfangen, da sie mit Linear B zwar eine Schrift hatten, diese aber – soweit bisher bekannt – ausschließlich zu Verwaltungszwecken nutzten (anders als in anderen Kulturen ihrer Epoche gab es noch nicht einmal Inschriften, die herrscherlicher Repräsentation oder religiösen Zwecken gedient hätten). Erzählende Quellen existieren daher bestenfalls im Ansatz und immer nur in den Fällen, in denen mykenische Akteure etwa mit Hethitern oder Ägyptern in Kontakt (und nicht selten auch Konflikt) gerieten. Das Wenige, was daraus zu entnehmen ist, mit den weit umfangreicheren archäologischen Funden unter einen Hut zu bringen, erfordert Interpretationen, die auch spekulative Elemente beinhalten können, und so gibt Tausend hier immer wieder ausführlicher als im ersten Band auch Forschungsdebatten wieder (etwa zu der Frage, wie umfangreich man sich das in hethitischen Dokumenten mit Ahhijawa bezeichnete Gebiet vorzustellen hat und wo es zu lokalisieren ist – hier reicht die Bandbreite von Deutungen von einem örtlich relativ eng begrenzten Herrschaftsraum, der an unterschiedlichsten Stellen vermutet wird, bis hin zum kompletten mykenischen Griechenland).

Im Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur beleuchtenden zweiten Teil des Buchs werden nicht nur die erhaltenen Gebäudereste sowie Kunstwerke und das, was man über Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur der mykenischen Welt rekonstruieren kann, vorgestellt, sondern auch immer wieder Kontinuitäten zu der in ihren Einzelheiten besser überlieferten griechischen Welt ab der archaischen Zeit deutlich, etwa, was bestimmte Götternamen betrifft, die schon hier in der Bronzezeit belegt sind. Den Forschungsinteressen des Verfassers entsprechend, erhalten auch Militär und Kriegsführung ein eigenes Unterkapitel, während andere Bereiche eher kursorisch gestreift werden (so erfährt man beispielsweise sehr wenig über die Rolle von Frauen, die nur als Priesterinnen und als im Krieg verschleppte, möglicherweise versklavte Arbeitskräfte kurz auftauchen).

Wie schon beim ersten Band hat man an einzelnen Stellen das Gefühl, dass noch ein Korrekturdurchgang mehr nicht hätte schaden können (so fällt z. B. auf, dass das sogenannte „Schatzhaus des Atreus“, ein nach der Sagengestalt Atreus benanntes Grab bei Mykene, hier durchgängig „Schatzhaus des Artreus“ geschrieben wird). Insgesamt aber bildet dieser zweite Band der Frühen Kulturen der Ägäis einen interessanten und nicht viel Vorwissen voraussetzenden Einstieg in die mykenische Welt, der zahlreiche Abbildungen (wie Kartenmaterial und Fundfotos) bietet und, anders als die Einführung zum selben Thema von Deger-Jalkotzy und Hertel, aus einem Guss und dadurch eingängiger lesbar ist.

Klaus Tausend: Frühe Kulturen der Ägäis. Band 2: Das Zeitalter der homerischen Helden. Stuttgart, Kohlhammer, 2024, 236 Seiten.
ISBN: 978-3-17-040950-7


Genre: Geschichte

Triumvirat

Im Jahr 60 v. Chr. zählten Caesar, Pompeius und Crassus zu den ehrgeizigsten römischen Politikern, doch allein oder gar gegeneinander konnten sie ihre jeweiligen Ziele nicht erreichen. Unter Federführung Caesars schlossen sie sich daher zu einem Zweckbündnis zusammen, das als erstes Triumvirat in die Geschichte eingehen sollte. Der Altphilologe Markus Schauer zeichnet in seinem lesenswerten Buch Triumvirat nach, wie es zu dieser bemerkenswerten Konstellation kommen konnte und wie letztlich dennoch jeder Einzelne der drei mit seinen Ambitionen scheiterte (wenn auch Caesar immerhin der postumen Triumph vergönnt war, sich mit Augustus einen Erben ausgesucht zu haben, der auf lange Sicht erfolgreicher agierte).

Eingebettet sind die drei ineinander verflochtenen Biographien in eine Geschichte der späten römischen Republik, die der Bezugsrahmen war, in dem Karrieren wie die der Triumvirn sich abspielen konnten, obwohl sie letztlich dazu beitrugen, das bestehende System in den Untergang zu treiben und den Boden für die Kaiserzeit zu bereiten. Schauer sieht als treibende Kraft hinter dieser Entwicklung neben dem individuellen Machtstreben, das sich nicht nur aus einem aristokratischen Selbstverständnis, sondern durchaus auch aus der Orientierung an literarischen und historischen Vorbildern wie den homerischen Helden und Alexander dem Großen speiste, nicht zuletzt auch die Tatsache, dass der ohnehin nicht im modernen Sinne demokratischen Gesellschaft Roms spätestens seit den Gracchen der Konsens darüber verloren gegangen war, wie politische Entscheidungen gefällt werden sollten. Diese Unsicherheit nur auf den bekannten Gegensatz zwischen Popularen und Optimaten zu reduzieren, würde zu kurz greifen, da neben die althergebrachte Legitimation durch Volksversammlung und Senat auch immer stärker die durch militärische Macht drängte, erfolgreiche Feldherren mithin auch abseits der oder zusätzlich zur gängigen Ämterlaufbahn Einfluss anhäufen konnten.

Könnte man diese Informationen noch so oder so ähnlich auch in anderen Darstellungen finden, ist die Art, wie hier die Geschichte des Triumvirats und seiner drei Mitglieder erzählt wird, bemerkenswert und vielleicht nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass der Autor eben kein typischer Historiker ist, sondern von Haus aus Literaturwissenschaftler, der als Deutender wie als Verfasser sehr bewusst mit Texten und ihren Feinheiten umgeht. Denn Schauer nimmt nicht nur die antiken Historiker und ihre Einschätzungen des Geschehens ernst, sondern bedient sich auch selbst eines in gewisser Weise bei ihnen entlehnten Kunstgriffs: Legten sie ihren Protagonisten oft fiktive Reden in den Mund, die so nie gehalten wurden, aber doch treffend Persönlichkeiten zu charakterisieren und Situationen zu verlebendigen vermochten, ist es bei Schauer an exponierter Stelle fiktive erlebte Rede, die einen Blick in die Gedankenwelt von Pompeius, Crassus und vor allem Caesar – nicht wie sie war, aber wie sie sehr wohl hätte sein können – gestattet. Ist man eher trockene historische Darstellungen gewohnt, mag das Stilmittel zunächst irritieren, aber gerade dadurch kann es als interessanter Denkanstoß dienen, der einem zudem bewusst macht, dass alle historische Forschung, auch wenn sie es nicht notwendigerweise so offen deutlich macht wie Schauer hier, immer auch Interpretation beinhaltet.

Es lohnt sich also, sich auf diese auf den ersten Blick ungewohnte, aber zugleich auch packende Art des Erzählens vom Ende der römischen Republik einzulassen. Die Lektüre ist auf jeden Fall ein Gewinn.

Markus Schauer: Triumvirat. Der Kampf um das Imperium Romanum. München. C.H. Beck, 2023, 432 Seiten.
ISBN: 978-3-406-80645-2

 


Genre: Biographie, Geschichte

Die Geheimnisse des Tibers

Die Entstehung und die historische Entwicklung Roms sind ohne den Tiber kaum vorstellbar. Dennoch wird der Fluss in Betrachtungen der Stadtgeschichte – ganz gleich ob nun auf die Antike oder auf Mittelalter und Neuzeit bezogen – oft eher stiefmütterlich als bloßes Beiwerk behandelt. Birgit Schönau dreht in ihrem lesenswerten Buch Die Geheimnisse des Tibers diese Perspektive konsequent um und erzählt mit dem Tiber als Zentrum von Rom und seinen Menschen.

Die Darstellung ist dabei nicht chronologisch, sondern thematisch gegliedert, und das ist in diesem Fall äußerst sinnvoll. Denn bevor man ihn im späten 19. Jahrhundert zum Hochwasserschutz mit hohen Mauern, denen viele historische Bauwerke geopfert wurden, einhegte und damit bis zu einem gewissen Grade auch aus der Stadt verbannte, spielte der Tiber seine verschiedenen durchaus widersprüchlichen Rollen oft jahrhundertelang, so dass der epochenübergreifende Ansatz bestimmte Aspekte weitaus deutlicher hervortreten lässt, als eine Erzählung in strikt zeitlicher Folge es könnte.

So erfährt man vom Tiber als Naturgewalt, die oft genug verheerende Überschwemmungen brachte, aber auch von seiner Funktion als Wasserspender und Abwasserentsorger zugleich sowie als Verkehrsweg für Waren und Reisende und als Mühlenantrieb. Klingt dies alles noch mehr oder minder typisch für Flüsse allgemein, erfuhr der Tiber aber auch durch die Kultur an seinen Ufern ganz spezielle Deutungen und Nutzungen. Religiös zunächst als paganer Flussgott verehrt, dann von dem Päpsten zu einer Art zweitem Jordan uminterpretiert, waren er und seine Umgebung gar nicht so erhaben, wie man angesichts dieser spirituellen Überhöhung annehmen könnte: In die Uferbereiche des Tibers lagerten die Mächtigen der Stadt auch marginalisierte und missliebige Personen aller Art aus, entstanden dort doch das Ghetto, in das man die Juden unter erbärmlichen Bedingungen einpferchte, Kranken-, Armen- und Waisenhäuser, aber auch Gefängnisse.

Vor diesem Hintergrund ist es dann kaum noch ein Wunder, dass nahe am Tiber auch immer wieder grausame Hinrichtungen und brutale (Lynch-)Morde stattfanden, gelegentlich auch gleich mit Entsorgung der Getöteten im Fluss. Im krassen Gegensatz dazu steht der Tiber als Ort des Vergnügens sowohl der Oberschicht, die in Antike wie Renaissance Paläste und Gärten in Tibernähe errichten ließ, als auch der kleinen Leute, die hier lange dem Badespaß frönten (womit es heute allerdings vorbei ist) und auch Treffpunkte zu Geselligkeit und Beziehungsanbahnung fanden.

Es überrascht nicht, dass ein derart allgegenwärtiger Fluss auch zu Kunst aller Art inspirierte und inspiriert, so dass Birgit Schönau dem Tiber „in Malerei, Literatur und Film“ abschließend noch ein ganz eigenes Kapitel widmet – unter besonderer Berücksichtigung von Pier Paolo Pasolini, dessen Wirken mit dem Tiber ebenso eng verknüpft ist wie sein bis heute nicht vollständig aufgeklärter Tod.

Obwohl also auch immer wieder mit klarem Blick Schattenseiten des Lebens in Rom einst und jetzt benannt werden, merkt man der Autorin ihre Begeisterung für den Tiber und seine Stadt deutlich an, und sie versteht sie in einem so gut lesbaren und unterhaltsamen Stil zu vermitteln, dass das Buch selbst ein wenig wie ein Fluss wirkt: mitreißend, gelegentlich auch zum tieferen Eintauchen einladend, aber vor allem immer in Bewegung und niemals langweilig.

Bild- und Kartenmaterial, eine Zeittafel der wichtigsten Ereignisse und ein Überblick über Roms Tiberbrücken, die gar nicht einmal so zahlreich sind, wie man annehmen könnte, runden den durch und durch empfehlenswerten Band ab und laden dazu ein, sich mit bestimmten angerissenen Themen noch ein bisschen tiefergehend zu befassen.

Birgit Schönau: Die Geheimnisse des Tibers. Rom und sein ewiger Fluss. München, C.H. Beck, 2023, 320 Seiten.
ISBN: 978-3-406-80837-1


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Ich, Helene Kottannerin

Elisabeth von Luxemburg, Tochter Kaiser Sigismunds und mit dessen Nachfolger, dem Habsburger Albrecht II., verheiratet, war schwanger, als ihr Mann 1439 einer Krankheit erlag, und hoffte darauf, einen männlichen Erben zur Welt zu bringen und so bald wie möglich zum König von Ungarn krönen lassen zu können. Dazu war die auf der Plintenburg in Visegrád verwahrte ungarische Königskrone unabdingbar notwendig, die Aussicht allerdings, dass man sie Elisabeth einfach aushändigen würde, gering: Der ungarische Adel pochte auf seinen Einfluss, wollte das dynastische Prinzip bei der Nachfolge nicht gelten lassen und hätte einen Erwachsenen gegenüber einem Kindkönig bevorzugt. In dieser Situation beauftragte Elisabeth die loyal zu ihr stehende Kammerfrau Helene Kottannerin, die Krone heimlich zu stehlen und zu ihr zu bringen – ein Vorgang, über den wir im Detail nur deshalb so gut unterrichtet sind, weil die Diebin wider Willen in späteren Jahren einen ausführlichen autobiographischen Bericht darüber und über die weiteren Geschehnisse noch über die tatsächlich erfolgte Krönung von Elisabeths Sohn Ladislaus Postumus hinaus verfasste.

Es ist dieser ungewöhnliche, leider nur unvollständig überlieferte Text aus einer an Memoiren zumal von Frauen noch sehr armen Zeit, den die Historikerinnen Julia Burkhardt und Christina Lutter in ihrem lesenswerten Buch in neuhochdeutscher Übersetzung präsentieren (und durch hilfreiche Unterüberschriften gliedern), um dann eine umfassende historische Einordnung vorzunehmen, die ein tiefes Eintauchen in die Welt des späten Mittelalters ermöglicht.

Schon geographisch in einer Kontaktzone zwischen verschiedenen Kultur- und Sprachräumen angesiedelt, ist der Bericht der Helene Kottannerin (die sich übrigens selbst darin „Helena“ oder „Elena“ nennt, während die Forschung ihr die Namensform „Helene“ gegeben hat) auch deshalb so interessant, weil er zwar in einem höfischen Umfeld spielt, aber aus der Perspektive einer Person bürgerlichen Standes geschrieben ist, die Kontakt zu Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten hatte und diesbezüglich auch oft eine Vermittlerinnenrolle einnahm. Neben der politischen Geschichte der Durchsetzung der erwünschten Nachfolge durch die Königin spielt daher auch viel Alltagshistorisches eine Rolle, von beschwerlichen Reisen des Hofs über Schlafarrangements und Kinderpflege bis hin zu Religiosität und Aberglauben (so liest man hier von wundertätigen Erbsenschoten und davon, dass aus Sicht der Kammerfrau entweder ein Gespenst oder der Teufel höchstpersönlich den Kronendiebstahl zu hintertreiben versuchte).

Wer das Vorurteil hat, dass ein mittelalterlicher Text notwendigerweise trocken und schwierig zu lesen sein muss, wird hier eines Besseren belehrt, denn Helene Kottannerin schreibt nicht nur anschaulich, sondern auch sehr lebensnah und in manchen Punkten ehrlicher, als man es vielleicht im Voraus erwartet (so führt die Krönung eines wenige Monate alten Babys trotz aller Feierlichkeit eben auch und vor allem zu einem wie am Spieß brüllenden kleinen König). Diese erfrischende Offenheit macht die Quelle zu einer, die über ihre historische Bedeutung hinaus auch einen hohen Unterhaltungswert hat und nebenbei mit dem Klischee aufräumt, Frauen im Mittelalter seien bestenfalls passive Schachfiguren in männlichen Machtspielen gewesen. Sowohl die Königin als auch ihre Kammerfrau wissen sehr genau, was sie wollen, und finden Mittel und Wege, es auch zu erreichen.

Zahlreiche Abbildungen und nützliche Hilfsmittel (wie Kartenmaterial, eine Konkordanz der deutschen und ungarischen Formen von Ortsnamen und eine Stammtafel, aus der sich die teilweise verwirrenden familiären Verflechtungen zwischen Luxemburgern, Habsburgern, Cilliern und Jagiellonen entnehmen lassen) runden den ebenso kompakten wie gelungenen Band ab, der hiermit allen ans Herz gelegt sei, die sich für das späte Mittelalter interessieren.

Julia Burkhardt, Christina Lutter: Ich, Helene Kottannerin. Die Kammerfrau, die Ungarns Krone stahl. Darmstadt, wbg Theiss, 2023, 192 Seiten.


Genre: Biographie, Geschichte

Februar 33

Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 war nicht nur ein gravierender politischer Einschnitt mit fatalen Folgen für ganz Deutschland, sondern markierte zugleich einen Wendepunkt für viele literarisch Tätige, ob sie nun Schriftstellerinnen, Kritiker, Journalistinnen oder Verleger waren. Die wenigen Wochen bis zum Reichstagsbrand (27. Februar) und den Wahlen (5. März), die die Herrschaft der Nationalsozialisten endgültig zementierten, entschieden über Karrieren und oft auch über Leben und Tod, denn es gab vieles, was den neuen Machthabern ein Dorn im Auge war und selbst prominenten Persönlichkeiten des kulturellen Lebens zum Verhängnis werden konnte, von jüdischer Herkunft über kommunistische Überzeugungen bis hin zum schlichten Eintreten für Demokratie und Freiheit.

Uwe Wittstock zeichnet diesen Februar 33 auf Basis von Quellen wie Tagebüchern, Briefen und Zeitungsnachrichten Tag für Tag nach und folgt dabei den Spuren verschiedener Menschen im Literaturbetrieb, unter denen die Familie Mann, in der so viele Mitglieder in irgendeiner Form schrieben, eine zentrale Rolle einnimmt. Was leichtfüßig und launig mit einer Schilderung des letzten Berliner Presseballs vor der Machtübernahme der Nazis beginnt, auf dem Carl Zuckmayer und der Flieger Ernst Udet gerade noch davon abgehalten werden können, zum Spaß öffentlich ihre Hinterteile zu entblößen, wird bald immer beklemmender, und das nicht nur, weil den Abschluss jedes Tageskapitels eine protokollartige Auflistung der oft tödlichen Gewalttaten bildet, mit denen die Nazis in Straßenkämpfen und Angriffen z. B. auf Lokale oder Wohnungen insbesondere Linke terrorisierten und ihre Macht festigten. Fassungslos macht daran unter anderem auch, wie häufig neben den gezielt attackierten Opfern völlig Unbeteiligte, die einfach nur vorüberkamen oder in der jeweiligen Gegend wohnten, verletzt oder getötet wurden. Alle Heutigen, die sich selbst für unpolitische Menschen halten und glauben, dadurch in unruhigen Zeiten relativ sicher zu sein, werden hier hoffentlich eines Besseren belehrt.

Einen weitaus breiteren Raum nehmen jedoch die schlaglichtartigen Blicke auf Schicksale aus der literarischen Welt des deutschen Sprachraums ein. Eindringlich wird greifbar, dass bis auf einzelne Vorausschauende (wie etwa Joseph Roth) viele lange unterschätzten, wie schlimm die Situation sich entwickeln würde, und so erst spät – in manchen Fällen leider auch zu spät – daran dachten, sich in Sicherheit zu bringen. Während beispielsweise Alfred Kerr, Heinrich Mann oder Else Lasker-Schüler gerade noch rechtzeitig ins Ausland entkommen konnten und Einzelne – so Egon Erwin Kisch und Manès Sperber – nach einer Verhaftung nur dank ihrer nichtdeutschen Staatsbürgerschaft glimpflich mit einer Abschiebung davonkamen, fanden allzu viele, die blieben (sei es aus Überzeugung, wie Carl von Ossietzky, oder schlicht aus Geldmangel, wie Erich Mühsam), ein schreckliches Ende. Das Maß von Willkür, Gewalt und entsetzlichsten Misshandlungen, das schon in diesem Anfangsstadium der Nazidiktatur aufscheint, verweist auf die späteren Gräuel voraus und ist eine Mahnung, niemals zu unterschätzen, wie weit antidemokratische Kräfte zu gehen bereit sind, wenn man ihnen Gelegenheit dazu gibt.

Denn – auch das wird schmerzlich deutlich – nicht alles wurde von den Nazis unmittelbar erzwungen; manchen Veränderungen zum Schlechteren wurde auch durch den vorauseilenden Gehorsam verschiedenster Menschen und Institutionen Vorschub geleistet, ob sie sich nun, wie etwa Gottfried Benn, durch eine Anbiederung bei den neuen Herren im Land persönliche Vorteile erhofften oder schlicht nichts riskieren wollten und darum missliebige Artikel lieber nicht mehr druckten oder heikle Theaterstücke vom Spielplan nahmen. Daneben gab es zwar auch Beispiele von Mut, Mitmenschlichkeit und Solidarität, aber sie halfen oft allenfalls punktuell und reichten insgesamt gesehen bei weitem nicht aus, um der beginnenden Schreckensherrschaft etwas entgegenzusetzen.

Wittstocks Buch ist 2021 erschienen, und schon aus der damaligen Perspektive konstatiert er, dass sich zwischen 1933 und unserer Zeit trotz aller Unterschiede durchaus Parallelen ziehen lassen. Die seitdem eingetretenen Entwicklungen scheinen nicht geeignet, ihn zu widerlegen, und so sollte man seine Mahnung, sich vor Augen zu führen, wie schnell eine Demokratie zur Diktatur werden kann, unbedingt beherzigen. Wittstocks anschauliche und lebendige Vergegenwärtigung der noch keine hundert Jahre zurückliegenden Katastrophe ist vor diesem Hintergrund nicht nur eine packende Lektüre, sondern auch ein wichtiger Denkanstoß.

Uwe Wittstock: Februar 33. Der Winter der Literatur. 6. Aufl. München, C. H. Beck, 2021, 288 Seiten.
ISBN: 978-3-406-77693-9


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Der Tod der Tribune

Im Jahr 133. v. Chr. wurde der römische Volkstribun Tiberius Gracchus, der weitreichende Bodenreformpläne durchzusetzen versucht hatte, erschlagen, zwölf Jahre später sein jüngerer Bruder Caius, der im selben Amt noch ehrgeizigere Vorhaben als Tiberius verfolgt hatte, in den assistierten Selbstmord getrieben. Der Tod der Tribune (auch wenn Caius bei seinem Ableben streng genommen gar kein Volkstribun mehr war) ist nicht nur titelgebend für Charlotte Schuberts lesenswertes Buch über Biographie, Politik und Nachwirkung des Brüderpaars. Sie nimmt auch, statt streng chronologisch zu erzählen, die Ermordung des Tiberius Gracchus zum Ausgangspunkt ihrer gesamten Darstellung, markiert doch der Angriff hasserfüllter Senatoren auf den eigentlich dem Gesetz nach unantastbaren Volkstribun einen Wendepunkt in der Geschichte der römischen Republik, deren letztes Jahrhundert in erheblichem Maß von tödlicher Gewalt gegen politische Gegner geprägt war.

Besonders gut gelingt es Schubert dabei, die größeren Zusammenhänge greifbar zu machen und anschaulich zu zeigen, welche Verbindungen zwischen den Reformvorhaben der Gracchen einerseits und der stoischen Philosophie, den römischen Eroberungen auf der iberischen Halbinsel, der Zerstörung Karthagos, dem Fall des Königreichs Pergamon an die Römer und dem Aufstand des Aristonikos andererseits bestanden.

Die gracchischen Reformen selbst beurteilt sie differenziert und verdeutlicht, dass ihre im allgemeinen Bewusstsein häufige Reduktion auf eine reine Bodenreform und Landumverteilung zu kurz greift, um die politische Sprengkraft zu erfassen, die ihnen innewohnte. Wenn es auch zu weit gehen würde, den Brüdern zu unterstellen, eine auch nach modernem Verständnis echte Demokratisierung Roms angestrebt zu haben, sieht Schubert in ihrem Handeln doch eine Politik verwirklicht, die sich eher an ethischen Kriterien (und dem Wunsch nach Gerechtigkeit für breitere Kreise als bisher) ausrichtete als allein an persönlichem Machtstreben oder den Interessen der herrschenden Aristokratie. Auch macht sie deutlich, dass die Gracchen nicht in dem Maße, wie oft unterstellt wird, gescheiterte Reformer waren, sondern trotz des tragischen Endes, das sie beide fanden, erstaunlich viel bewegen konnten.

Neben einer Schilderung und Deutung der Ereignisse des 2. vorchristlichen Jahrhunderts selbst ist der Althistorikerin aber auch wichtig, das Nachleben der Brüder sowohl in der Antike als auch in der Neuzeit auszuloten, werden sie doch schon in den Quellen sehr unterschiedlich bewertet (so etwa eher mit Sympathie bei Plutarch, dagegen aber bei Cicero, der gar versuchte, den Tod des Tiberius als Präzedenzfall für sein eigenes brutales Vorgehen gegen die Catiliniarier zu nutzen, negativ). Verschiedene Aspekte der Rezeption – so etwa auch die Verehrung, die Cornelia, die Mutter der Brüder, schon im Altertum, aber auch später jahrhundertelang in Kunst und Literatur genoss – dienen Schubert dabei als Ansatzpunkte, noch weitere Themen abseits der Schwerpunkte ihres Buchs zu erkunden (in Cornelias Fall beispielsweise die Einflussnahme von Frauen der römischen Oberschicht auf politische Prozesse, von denen sie offiziell zwar ausgeschlossen waren, in die sie jedoch immer wieder auf Umwegen einzugreifen vermochten).

Obwohl Der Tod der Tribune sich an ein allgemeines Publikum richtet und auch z. B. durch ein Glossar und ein kommentiertes Verzeichnis der Quellenautoren um Zugänglichkeit bemüht ist, bringt diese nichtlineare Vorgehensweise es mit sich, dass ein paar Vorkenntnisse über die römische Geschichte beim Verständnis zumindest nicht schaden (auch wenn sie vielleicht nicht so zwingend erforderlich sind, wie sie es bei einem Fachtext wären). Anregend und interessant liest sich der frische Blick auf die Gracchen jedoch allemal und berührt mit den Fragen nach sozialem Ausgleich, politischer Teilhabe und Gewalt als Mittel zum Machterhalt oder -gewinn auch zahlreiche Problemfelder, die nicht allein an die Antike gekoppelt sind, sondern bis heute Aktualität besitzen.

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune. Leben und Sterben des Tiberius und Caius Gracchus. München. C. H. Beck, 2024, 304 Seiten.
ISBN: 978-3-406-81372-6


Genre: Geschichte

Die Billunger

Obwohl die Billunger in Ottonen- und Salierzeit zu den wichtigsten Akteuren im norddeutschen Raum zählten, ist die Familie, die über mehrere Generationen hinweg die sächsischen Herzöge stellte, in allgemeinem Bewusstsein und Forschung heute weniger präsent als viele ihrer Zeitgenossen. Abhilfe schaffen kann diesbezüglich der Tagungsband Die Billunger. Die sächsische Herzogsfamilie im Blick aktueller Forschung, der unter drei Themenschwerpunkten den billungischen Herzögen und ihrem vielfältigen Umfeld nachspürt.

Im ersten Oberkapitel geht es um Dynastie und Herzogtum der Billunger. Den Auftakt bildet Matthias Bechers gewohnt lesenswerter Aufsatz Schwierige Anfänge. Hermann Billungs Aufstieg zum sächsischen Herzog mit der Schilderung einer so nicht unbedingt von Anfang an erwartbaren, aber aus der spezifischen historischen Situation durchaus erklärlichen Karriere, die den Grundstein für die langjährige Dominanz der Billunger in Norddeutschland legte.
Der Titel des folgenden Beitrags – … aut hostem occisum irridere vel certe propinquum deflere. Die Billunger als Verwandte – täuscht ein wenig darüber hinweg, dass es Gerhard Lubich nicht primär darum geht, das Handeln der Billunger ihren Verwandten gegenüber zu schildern, sondern zu hinterfragen, ob in der Forschung angenommene oder auch in Schriftquellen erwähnte bzw. angedeutete Verwandtschaftsbeziehungen überhaupt bestanden. Lubich lässt hier viel weniger als gesichert gelten als die meisten anderen am Band Beteiligten (und man kann sich fragen, ob seine Skepsis nicht hier und da auch über das Ziel hinausschießt).
Quellenkritik ist auch ein zentrales Anliegen von Hans-Werner Goetz in Die ‚Billunger‘ in der zeitgenössischen Historiographie, durchaus einschließlich der Untersuchung (und übersichtlichen grafischen Darstellung) der jeweils in erzählenden Geschichtsquellen erwähnten Verwandtschaftsverhältnisse, aber vor allem ganz generell bezogen auf die jeweiligen Interessen und Wertungen verschiedener Chronisten. In einem Fachtext ungewohnt, aber eingängig und einprägsam ist eine Grafik (S. 175), die mittels Emojis veranschaulicht, wie gut oder schlecht das Verhältnis unterschiedlicher Billunger zueinander war.
Florian Hartmann stellt in Die Erben der Billunger und der Kampf um die sächsische Herzogswürde einleuchtend dar, wie in den Jahrzehnten nach dem Tod des letzten Billungerherzogs Magnus 1106 die Welfen und Askanier – die beiden Familien, in die Magnus‘ Töchter Wulfhild und Eilika eingeheiratet hatten – Nachfolgeansprüche durchzusetzen versuchten und wie sehr sich der Welfe Heinrich der Löwe, dem am Ende Erfolg beschieden war, in seiner Rolle als sächsischer Herzog auch zum Billunger stilisierte. Deutlich wird, dass von einem vermeintlichen „Aussterben“ der Billunger durch das Fehlen männlicher Erben so nicht die Rede sein kann und man das Weitertragen der Tradition einer Familie durch ihre weiblichen Mitglieder ernster nehmen muss, als es in der bisherigen Forschung oft geschehen ist.

Der zweite große Abschnitt des Buchs ist dem Agieren in geistlichen und weltlichen Sphären gewidmet. Nathalie Kruppa betrachtet in diesem Kontext Die Klöster und Stifte der Billunger, denn auch wenn man geneigt ist, hier vor allem an das Kloster St. Michael auf dem Lüneburger Kalkberg zu denken, gab es verschiedene geistliche Institutionen, zu denen die Billunger Verbindungen hatten und die vor allem für ihre Memoria eine entscheidende Rolle spielten.
Obwohl also die geistliche Komponente aus dem Leben der Billunger nicht wegzudenken ist, kommt Tobias P. Jansen in Blut ist dicker als Weihwasser zu dem Schluss, dass ihre Macht trotz allem primär auf weltlichen Säulen ruhte. Denn auch wenn einige Mitglieder der Familie es zu Bischofsämtern brachten, war diese Option nie die zentrale für den Erhalt des Einflusses der Billunger.
So passt es gut, dass Robert Gramsch-Stehfest in seinem unmittelbar folgenden Beitrag Die Billunger und das Netzwerk des sächsischen Hochadels im 11. und 12. Jahrhundert untersucht und mit Mitteln der Netzwerkanalyse vor allem die Bedeutung von Heiratsverbindungen der sächsischen Adelshäuser untereinander auslotet. Deutlich wird hier wie schon bei Florian Hartmann im Kapitel zuvor, dass die Rolle der weiblichen Angehörigen solcher Familien für die Stiftung von Kontinuität nicht zu unterschätzen ist.
Den Blick über Sachsen hinaus richtet Jürgen Dendorfer in seinem Aufsatz Die Billunger im spätsalischen Reich und macht durch einen hochinteressanten Vergleich mit den Herzogtümern Bayern und Schwaben plausibel, dass die Billunger anders als ihre süddeutschen Amtsgenossen auch deshalb die Herzogswürde über Generationen hinweg in der Familie halten konnten, weil sie unabhängig von diesem vom König verliehenen Titel über Besitz und Einfluss in der Region verfügten und damit ihre Macht auf unterschiedliche Art zu legitimieren vermochten.
Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass auch Verschwörung und Rebellion als Optionen billungischer Politik durchaus infrage kamen, wie Gerd Althoff in seiner gelungenen Untersuchung nachzuweisen vermag. Getragen von großem Selbst- und Standesbewusstsein sahen sich nicht alle Billunger immer in der Pflicht, loyal zum jeweiligen König bzw. Kaiser zu stehen, sondern fühlten sich durchaus im Recht, in Opposition zu ihm zu treten, wenn es opportun erschien.

Stand bisher meist im weitesten Sinne „Innenpolitisches“ im Zentrum des Bandes, richtet der dritte und abschließende Teil das Augenmerk auf das Agieren in den Kontaktzonen am Rande des Reiches, denn die Einflusssphäre der Billunger grenzte natürlich an die der Dänen und Slawen. Gleich der erste Beitrag vermag zu überzeugen: Carolin Triebler stellte die Frage, wie Der Billunger Ordulf im Spiegel der Quellen erscheint, und arbeitet glaubhaft heraus, dass die Darstellung Adams von Bremen, Ordulf sei ein im Vergleich zu seinen Vorgängern unbedeutender und im Kampf gegen Slawenaufstände erfolgloser Herzog gewesen, einer Korrektur bedarf, zu der erzählende altnordische Quellen ebenso beitragen können wie ein Blick in Urkunden, in denen Ordulf und sein Sohn Magnus erscheinen.
Eine wertvolle Ergänzung zu den historisch ausgerichteten Texten des Bandes bietet der nun folgende mit archäologischer Schwerpunktsetzung, Das archäologische Erbe der Billunger. Rainer-Maria Weiss präsentiert darin – unterstützt von reichem Bildmaterial, u. a. Karten und Rekonstruktionsdarstellungen – die Ergebnisse der seit 2014 erfolgten Ausgrabung der Neuen Burg in Hamburg als Beispiel für eine billungische Festung und Residenz.
Nördlich der Elbe liegt auch der Schwerpunkt von Oliver Auges Beitrag Die Billunger in der nordelbischen Geschichte und schleswig-holsteinischen Geschichtsforschung. Hier wird ein Überblick über die Sicht der historischen Forschung vom 16. Jahrhundert an auf die Rolle der Billunger im heutigen Schleswig-Holstein geboten.
Dasselbe Gebiet interessiert Günther Bock in Burgen, Kontakträume, Herrschaften, Erbgänge, dem letzten enthaltenen Aufsatz, der einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt. Einerseits arbeitet Bock schlüssig heraus, dass eine Fokussierung der Forschung auf einzelne ethnische Gruppen den Blick dafür verstellen kann, wie vernetzt die herrschenden Schichten von Sachsen, Slawen und Skandinaviern auch grenzüberschreitend waren, andererseits werden einige eher spekulative Annahmen vorgetragen, als wären sie belegbare Fakten (ob sich z. B. der Schatz von Farve eindeutig dem Slawenfürsten Ratibor zuordnen lässt, wie hier suggeriert wird, ist nicht geklärt).

Insgesamt bietet der von Nicole Laka auch äußerlich sehr ansprechend gestaltete Band eine breite Fülle von aktuellen Forschungsansätzen, die mit manch einem alten Vorurteil über die Billunger aufräumen, und bildet eine rundum lohnende Lektüre, die aufgrund des für ein Fachbuch erfreulich erschwinglichen Preises auch für Mittelalterfans und Neugierige außerhalb der Wissenschaft zugänglich ist.

Carolin Triebler, Florian Hartmann, Rainer-Maria Weiss (Hrsg.): Die Billunger. Die sächsische Herzogsfamilie im Blick aktueller Forschung. Hamburg, Archäologisches Museum Hamburg und Stadtmuseum Harburg, 2023 (Veröffentlichung des Archäologischen Museums Hamburg und Stadtmuseums Harburg Nr. 118), 512 Seiten.
ISBN: 978-3-931429-43-0


Genre: Geschichte

Das Rätsel der Schamanin

Vor etwa 9000 Jahren wurden dort, wo heute der Kurpark von Bad Dürrenberg in Sachsen-Anhalt liegt, eine Frau und ein Kind ungewöhnlich aufwendig bestattet. Die Beigaben – unter anderem ein vermutlich als Teil einer Maske genutztes Rehgehörn – laden dabei zu einer Deutung als rituell genutzte bzw. mit spiritueller Symbolik aufgeladene Gegenstände ein. Als das mesolithische Grab 1934 bei Bauarbeiten zufällig gefunden wurde, kam es nicht nur zu harmlosen Fehlern (wie einer fälschlichen Bestimmung des Geschlechts der Erwachsenen als männlich), sondern auch zu dem damaligen Zeitgeist entsprechenden vorschnellen Schlüssen, einen vermeintlichen „Ur-Arier“ entdeckt zu haben. Später wurde die Tote immerhin als weiblich erkannt, aber es blieben viele Fragen zu dem Fund offen, der eine der Hauptattraktionen des an Spektakulärem (man denke etwa an die berühmte Himmelsscheibe von Nebra) wahrlich nicht armen Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle bildet. Erst in jüngster Zeit erfolgten Nachgrabungen und eine umfassende Neuuntersuchung des Knochenmaterials, die andere Interpretationen als früher ermöglichen und einiges darüber verraten, in welchem Verhältnis die beiden Toten zueinander standen, wie sie gestorben sein könnten und welche Rolle die durch eine anatomische Besonderheit auffallende Frau im Leben gespielt haben mag.

Es ist dieser neue Blick auf die sogenannte „Schamanin von Bad Dürrenberg“, den Museumsdirektor Harald Meller und der Historiker und Literaturwissenschaftler Kai Michel in ihrem an ein allgemeines Publikum gerichteten Buch Das Rätsel der Schamanin präsentieren, aber auf eher ungewöhnlichem Wege, so dass man sich, anders als sonst in Sachbuchrezensionen, scheut, die wichtigsten Fakten schon in einer Besprechung vorwegzunehmen. Statt einen kompakten Überblick über Tatsachen, Indizien und daraus resultierende Vermutungen zu liefern, inszenieren sie die Präsentation der Ergebnisse als in ihrer Darbietung oft journalistisch anmutende, spannende Entdeckungsreise zu verschiedenen Forschungseinrichtungen. Was Skelette und Beigaben der Steinzeitmenschen verraten, enthüllt sich erst Stück für Stück. Die reinen Sachinformationen muss man sich also an verschiedenen Stellen des Buchs zusammensuchen, aber natürlich ist diese Erzählweise bestens geeignet, Archäologie als etwas Interessantes und Aufregendes erfahrbar zu machen. Wer den YouTube-Kanal des Museums und die Art, in der Meller dort einzelne Stücke aus der Sammlung mit großer Begeisterung vorstellt, kennt, wird sich in manchen Passagen vielleicht daran erinnert fühlen. Zwei Tafelteile, die neben eindrucksvollen Rekonstruktionsdarstellungen von Karol Schauer auch zahlreiche Fotos der Funde enthalten, erhöhen die Anschaulichkeit zusätzlich.

Mit dieser bewusst auf Lebendigkeit angelegten schrittweisen Enthüllung der Forschungsergebnisse wechseln immer wieder thematisch orientierte Passagen ab, in denen es nicht nur um die Lebenswelt des Mesolithikums allgemein geht, in dem – und nicht etwa erst in der Jungsteinzeit – laut Meller und Michel die entscheidenden Weichenstellungen für spätere Epochen erfolgten. Vielmehr werden auch theoretische Probleme der Forschung auf allgemeinverständliche Art erörtert, so etwa die Frage, ob der Begriff „Schamanismus“ aufgrund der damit untrennbar verknüpfen, eher unglücklichen Assoziationen, die nur im Kontext der russischen Kolonisierung Sibiriens zu verstehen sind, sich überhaupt zur Beschreibung prähistorischer Phänomene eignet (allein: eine griffige Alternative gibt es nicht).

Deutlich wird dabei immer wieder, inwieweit die vorgeschichtliche Forschung ein Kind ihrer jeweiligen Zeit ist, nicht nur in stark ideologisch geprägten Regimen wie dem der Nazis oder Stalins, sondern auch immer und überall dort, wo man ganz unschuldig der Versuchung erliegt, die eigene Normalität auf die ferne Vergangenheit zurückzuprojizieren. Besonders warnen Meller und Michel davor in Bezug auf soziale Verhältnisse (die im Mesolithikum noch weit egalitärer gewesen zu sein scheinen als vom Neolithikum an) und auf Religion und Spiritualität. Denn einen Götterglauben und die Existenz einer wie auch immer gearteten Geistlichkeit sehen die beiden Autoren als menschheitshistorisch sehr späte Entwicklungen an, während sie den Animismus bzw. die ihm zugrundeliegende Denkweise als evolutionär natürlich für den Menschen einstufen und daher aufzuzeigen versuchen, dass der Wandel hin zu anderen Weltanschauungen ebenso wie die Entstehung hierarchischer und die Einzelperson zunehmend isolierender Gesellschaften für viele Probleme der heutigen Welt verantwortlich sind. Hier wird es an manchen Stellen dann doch eher philosophisch als archäologisch.

Auch Mellers und Michels Perspektive ist aber natürlich eine, die von unserer Zeit geprägt ist (wie sie selbst oft genug durch bewusste Popkulturbezüge deutlich machen). Wenn sie gegen Ende des Buchs in Form einer zweigeteilten kleinen Erzählung darüber spekulieren, wie das Leben ihrer Protagonistin von der Kindheit bis zum Tod verlaufen sein könnte, wird das besonders offensichtlich, denn auch wenn den beiden hoch anzurechnen ist, dass sie es nicht auf ein Exotisieren und Dramatisieren anlegen, enthält ihre fiktive Geschichte natürlich durchaus moderne literarische Topoi (vielleicht am augenfälligsten den auch in unzähligen Fantasyromanen zu findenden der Wandlung der erst durch ein körperliches Gebrechen gehemmten Außenseiterin zur für die Gemeinschaft für lange Zeit bedeutenden Rettergestalt mit besonderen Fähigkeiten). Das aber ist per se nichts Negatives und vielleicht eine notwendige Erinnerung daran, dass unser Denken ebenso wie das früherer Jahrhunderte auch bei kritischen Geistern unterbewusst von bestimmten Erzählkonventionen geprägt ist.

Abschließend ist das titelgebende Rätsel der Schamanin also wohl gar nicht zu lösen, aber das sollte einen nicht von der Lektüre abhalten, die auf unterhaltsame Weise viel Wissenswertes über eine oft eher im Schatten von Alt- und Jungsteinzeit stehende Phase der Menschheitsgeschichte und über archäologische Forschung und ihre Tücken vermittelt.

Harald Meller, Kai Michel: Das Rätsel der Schamanin. Eine archäologische Reise zu unseren Anfängen. Hamburg, Rowohlt, 2022, 368 Seiten.
ISBN: 978-3-498-00301-2


Genre: Geschichte

Ein deutsches Versprechen

Ob Bach, Goethe, Liszt oder die Bauhaus-Anfänge – Weimar war über Jahrhunderte eine Stadt, in der Größen aus Kunst und Kultur wirkten. Für Helge Hesse versinnbildlicht es damit insbesondere in der Epoche der Weimarer Klassik Ein deutsches Versprechen, das nämlich, einen weltoffenen Ort für Austausch, Kreativität und geistigen Fortschritt zu bieten. Welches Potenzial in dem Zusammentreffen verschiedener wirkmächtiger Personen und Bewegungen in Weimar steckte und wie es dennoch dazu kommen konnte, dass das Versprechen nicht eingelöst wurde, sondern nur gut hundert Jahre nach Goethes Tod mit der Naziherrschaft eher – wenn trotz des bitterernsten Themas ein schlechtes Wortspiel gestattet ist – das deutsche Verbrechen schlechthin begann, zeichnet Hesse in seinem klugen Buch nach, das, so der Untertitel, Weimar 1756 – 1933 in den Blick nimmt, mithin vom Einzug der kunstsinnigen Herzogin Anna Amalia in Weimar bis zum Einsetzen einer sehr düsteren Zeit für Deutschland.

Den Schwerpunkt (mit 155 von 284 Seiten) bildet dabei das von Goethe, Herder, Wieland, Schiller und ihren Zeitgenossen geprägte Weimar der zweiten Hälfte des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts. Auch wer meint, darüber schon so manches zu wissen, sollte das Buch nicht leichtfertig verschmähen, denn Helge Hesse versteht es wie kaum ein anderer, die Bedeutung der Topographie für die Erfahrungswelt der Menschen, die in Weimar lebten, und für ihre Beziehungen untereinander deutlich zu machen. Wie weit Goethe es etwa von seinem jeweiligen Wohnsitz aus zu verschiedenen Bekannten hatte, wie die Umgebung von Schillers Haus geartet war oder was Paul Klee auf dem Weg zur Arbeit im Bauhaus alltäglich zu sehen bekam, wird einem ebenso greifbar vor Augen geführt wie die bewusste Schaffung von Erinnerungsorten in verschiedenen Zeiten. Die Stadt ist so nicht nur Bühne des Geschehens, sondern fast ein weiterer Akteur, dessen Einfluss man nicht unterschätzen darf.

Bei aller Bewunderung für das klassische Weimar verklärt Hesse die dort Lebenden und Wirkenden jedoch nicht, sondern schildert auch menschliche Schwächen, Ehrgeiz, Kleinlichkeit und Eifersüchteleien, die vielleicht allein schon verhindert hätten, aus dem titelgebenden Versprechen mehr als das werden zu lassen, wenn nicht noch andere, Weimar allein weit übersteigende Kräfte am Werk gewesen wären. Die napoleonischen Kriege, die den Keim des später so verheerenden Nationalismus in sich trugen, nimmt man dabei als Einschnitt deutlich wahr, doch ebenso bedeutsam war wohl das Beharrungsvermögen überkommener Einstellungen sowohl im Herrscherhaus als auch in der Bevölkerung: Mochte man sich auch mit Literaten, Musikern und bildenden Künstlern schmücken (und gerade auch das Gedenken an die schon verstorbenen unter ihnen hochhalten), ging damit doch keine generelle Überwindung von Engstirnigkeit und Pochen auf das Althergebrachte einher – zuletzt dann mit fatalen politischen Folgen.

Die Erkenntnis, dass auch höchste kulturelle Leistungen kein Garant sind, dass der ihnen zugrundeliegende Geist dauerhaft beherzigt wird, sondern immer auch und vielleicht gerade an den künstlerisch blühendsten Orten mit einem Rückfall in Tyrannei und Barbarei gerechnet werden muss, stimmt auch angesichts derzeitiger Entwicklungen nachdenklich. Doch Helge Hesse lässt sein Buch nicht in Düsternis enden, sondern ruft vielmehr in Form einer stimmungsvollen Beschreibung eines Spaziergangs ausgehend von Goethes Gartenhaus im Park an der Ilm dazu auf, sich zu vergegenwärtigen, dass es so nicht kommen muss, sondern Vergangenes, das nicht zum bloßen Jubiläum erstarrt, auch als Anregung genommen werden kann. Vielleicht ist es also an uns Heutigen, zu versuchen, das Versprechen – das, wie Hesse selbst einräumt, letzten Endes dann doch nicht allein ein deutsches, sondern ein allgemein menschliches und überzeitliches ist – nach besten Kräften einzulösen.

Helge Hesse: Ein deutsches Versprechen. Weimar 1756 – 1933. Ditzingen, Reclam, 2023, 284 Seiten.
ISBN: 978-3-15-011-436-0


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur