Hinter dem Lesestoff (Teil 2)

Einen ersten Beitrag über das, was eigentlich hinter dem hier manchmal veröffentlichten Lesestoff steckt, gab es letzte Woche schon. Heute folgt Teil 2, und danach geht es hier im Blog dann auch wieder wie gewohnt vor allem mit Rezensionen weiter.

Zur Einstimmung gibt es wieder eine Zeichnung von Jennifer S. Lange (JSL-Art), die den Namensgeber dieser Website zeigt, Ardeija, der in meinen Geschichten eine zentrale Rolle spielt.

Zeichnung "Ardeija" von Jennifer S. Lange

© Jennifer S. Lange, http://www.jsl-art.de/

Es ist kein Zufall, dass heute gerade er in der Illustration erscheint, denn um ihn geht es bei der Frage, welche literarische Inspiration eigentlich auslösend für meine Geschichten war.


Hinter dem Lesestoff (Teil 2): Noch mehr Mittelalter

Mag auch noch so viel aus anderen Interessengebieten ins Schreiben einfließen, hinter Texten stehen in erster Linie immer auch andere Texte, die einen beeinflussen und inspirieren. Natürlich gibt es zahlreiche Romane (von Fantasy bis hin zu Historienkrimis), die ich mag und die indirekt dazu beigetragen haben, mich zum eigenen Schreiben zu animieren. Aber der literarische Ausgangspunkt für das, was sich mittlerweile zu einem ganzen Geschichtenzyklus um die Stadt Aquae Calicis und ihre Bewohner ausgewachsen hat, liegt – wie könnte es anders sein? – im Mittelalter.

Das Hildebrandslied ist ein in einer Handschrift aus dem 9. Jahrhundert fragmentarisch überliefertes althochdeutsches Gedicht. In ihm trifft der Krieger Hildebrand nach langen Jahren des Exils auf seinen Sohn Hadubrand, und es kommt zum Kampf zwischen den beiden (hinter diesem Link findet man den Text und eine Übersetzung als Älteres Hildebrandslied; die Handschrift ist hier abgebildet).

Wie geht das Ganze aus? Laut dominierender Forschungsmeinung vermutlich eher schlecht. Als Belege dafür werden gern die Ásmundar saga kappabana und die Gesta Danorum des Saxo Grammaticus angeführt, da in ihnen jeweils ein Hildibrand (bzw. bei Saxo Hildiger) erscheint, der seinen eigenen Sohn tötet und dann im Kampf gegen einen weiteren Verwandten fällt. Allerdings stellt sich die Frage, wie sicher die Identifikation mit dem Hildebrand des Hildebrandslieds ist. Hat der in der altnordischen Saga immerhin noch mit ihm gemein, dass er mit den Hunnen in Verbindung gebracht wird, ist der in den Gesta Danorum ein skandinavischer Krimineller, der sich nicht gerade als zuverlässiger Gefolgsmann, sondern als allgemein mörderischer Schurke profiliert.

Ein etwas stichhaltigerer Hinweis auf ein böses Ende für den Sohn könnte es sein, wenn – wofür es Argumente gibt – das altenglische Gedicht Wulf and Eadwacer die Hildebrandssage aus der Sicht der ebenfalls betroffenen Frau aufgreift, aber auch in diesem Text bleibt der Ausgang letztlich offen.

Demgegenüber steht eine hoch- und spätmittelalterliche Erzähltradition, die den Kampf zwar mit einem Sieg des Vaters, aber dem Überleben beider Gegner enden lässt. So kommt es im balladenhaften Jüngeren Hildebrandslied, aber auch in der Thidrekssaga (und gerade die Version in letzterer sei allen, die beim Lesen gern schmunzeln, ans Herz gelegt – wie es hier den Sohn erst einmal in eine Sinnkrise stürzt, von einem alten Mann besiegt worden zu sein, bevor dieser sich als sein Vater erweist, ist bei aller Dramatik des Geschehens ziemlich komisch).

Für Teile der Forschung und des Publikums scheint ein schlechter Ausgang der „bessere“ zu sein. Man muss nicht lange suchen, um Loblieder auf die menschliche Tragik der Situation, die vermeintliche Unausweichlichkeit eines tödlichen Konflikts vor dem Hintergrund des den Beteiligten unterstellten Wertesystems und die angebliche Vorbildhaftigkeit solcher Kämpfer zu finden.

Aber mir stellt sich die Frage, ob das Hildebrandslied, selbst wenn es tatsächlich einmal ein trauriges Ende gehabt haben sollte, wirklich so zu lesen ist. Vielleicht fällt es eher in die Tradition der mahnenden und warnenden Geschichten, die am Beispiel eines Zweikampfs zeigen, dass Gewalt, die man übt, wohlbedacht sein will, weil sie leicht auch die eigenen Verwandten treffen kann (Jahrhunderte später z.B. grandios als einer der roten Fäden, die sich durch den Parzival Wolframs von Eschenbach ziehen, umgesetzt).

Für mich ist die Geschichte, die sich ergeben kann, wenn Vater und Sohn den Kampf beide überstehen und danach irgendwie weiter als Familienangehörige miteinander zurechtkommen müssen, auf alle Fälle eine weit interessantere als die, bei der es auf einen Todesfall hinausläuft, der uns eigentlich nicht viel sagt (außer, dass manche Entscheidungen eben keine guten sind).

Diese Gedanken, die ich mir seit meinem Studium immer wieder über das Hildebrandslied gemacht habe, sind schuld daran, dass mit Tricontium der Roman, in dem mein wiederkehrendes Figurenensemble eingeführt wird, ausgerechnet damit beginnt, dass sich Ardeija in einem Kerker wiederfindet, in den er ohne einen unter anderem gegen seinen Vater verlorenen Kampf nie gelangt wäre. Zur Ehre seines Vaters sei allerdings gesagt, dass er sich erst volle zweiunddreißig Jahre zu spät schlagartig bewusst wird, dass er einen Sohn hat – und von da an wird die Geschichte hoffentlich spannender, als sie sich entwickelt hätte, wenn er diesen Sohn ohne weitere Umstände erschlagen hätte …

Aber eines fehlt dem Hildebrandslied leider eindeutig: ein Drache.

Zeichnung: Gjuki, der kleine Drache

Gjuki (Zeichnung: Maike Claußnitzer)

Da mit Drachen bekanntlich alle Geschichten besser werden (siehe Teil 1), ist Ardeija in Begleitung des sehr handlichen Drachen Gjuki unterwegs. Denn obwohl in mittelalterlichen Texten das Aufeinandertreffen von Kriegern und Drachen fast immer tödlich ausgeht (meist, aber nicht immer, für Letztere), ist es aus meiner Sicht auch in dem Fall wesentlich interessanter, festzustellen, was sich nach einer unverhofften ersten Begegnung entwickeln kann, wenn alle Beteiligten sie überleben …


Neugierig geworden? Hier findet man Informationen zu allen bisher erschienenen Geschichten und Büchern um Ardeija, Gjuki und noch viele andere Figuren.