Lesestoff: Eine entfallene Szene (Tricontium)

Diese Woche kommt der Lesestoff mit einem Tag Verspätung, aber zum Ausgleich dafür ist es auch kein schon veröffentlichter Buchausschnitt, sondern eine Szene aus Tricontium, die seinerzeit einem Kürzungsdurchgang zum Opfer gefallen ist. Thematisch schließt sie an den Text von letzter Woche an, in dem Wulf, Oshelm und ganz am Rande auch Aslak schon aufgetreten sind.

Als Wulf einige Zeit später erkrankt, kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen Oshelm und Aslak, als dieser dem Schreiber vorwirft, Wulf würde ihn doch wohl nur um den Preis sexueller Gefälligkeiten beschützen. Als Oshelm Wulf davon berichtet, entspinnt sich folgendes Gespräch.

 

Eine entfallene Szene
(Tricontium, anstelle des vorletzten Absatzes auf S. 437)

Immerhin brachte die Geschichte Wulf zum Lachen, als Oshelm sie ihm am Abend erzählte, und das war viel, denn abgesehen von diesem kurzen Augenblick der Heiterkeit schien es ihm ganz erbärmlich zu gehen. Er hatte sich in seiner Ecke der Zelle zu einem zitternden und bisweilen hustenden Lumpenhaufen zusammengerollt und hätte wahrscheinlich liebend gern noch eine Weile auf die Gesellschaft seines Mitgefangenen verzichtet, denn die Decke, die Oshelm zustand, lag zwar ordentlich gefaltet auf seiner Strohschütte, fühlte sich aber noch so warm an, dass der Schreiber vermutete, dass Wulf sich den Tag über darunter verkrochen und sie erst unmittelbar vor der Rückkehr des eigentlichen Besitzers wieder abgelegt hatte.

Oshelm strich mit den Fingerspitzen über die raue Wolle und sagte sich, dass es sich – Kälte hin oder her – wohl gehörte, ein wenig von der unverdienten Gnade, die über ihn hereingebrochen war, weiterzugeben. „Du kannst sie gern für heute Nacht behalten.“

„Damit du fröhlich erfrieren kannst?“ Wulf brachte ein Lächeln zustande und vergrub sich tiefer in seiner eigenen Decke.

Aber Oshelm hatte nicht vor, seine edlen Absichten schnöden Vernunftgründen zu opfern, schon gar nicht an diesem Tag, der ihm einen Hauch von Stolz zurückgegeben hatte. „So kalt ist es nun auch nicht“, log er. „Wir hatten schon schlimmere Winter, und mein Mantel ist warm.“

Wulf hustete. „Nun ja“, sagte er und betrachtete die verlockende Decke in Oshelms Hand. „Vermutlich könnten wir nahe zusammenrücken und sie uns teilen, aber ich würde wohl hier und heute kaum einen so angenehmen Bettgenossen abgeben, wie du ihn verdient hättest.“

Wenn Aslak nichts von Huren und bösen Absichten gesagt hätte, wäre die Antwort Oshelm ganz unschuldig erschienen, aber so sorgte sie dafür, dass er die schon halb angehobene Decke wieder sinken ließ. „Wir müssen reden, Wulf“, sagte er, so fest es ihm angesichts der wüsten Vermutungen, die mit einem Schlag auf ihn einstürzten, nur irgend möglich war.

Vielleicht lag es am Fieber, dass Wulfs Blick so verständnislos war.

Oshelm biss sich auf die Lippen. „Aslak sagt … Ich meine, er hat gesagt … Er hat also gesagt …“

„Hat er dich bedroht?“ Wulf richtete sich ein wenig auf, als könnte er hier und jetzt etwas gegen etwaige Bosheiten des Pferdediebs unternehmen.

Oshelm wäre darüber gerührt gewesen, wenn ihn die kleine Bewegung nicht allzu sehr daran erinnert hätte, dass Wulf – ob nun geschwächt oder nicht – immer noch vor allem ein Krieger und dementsprechend brandgefährlich war. Vielleicht wäre es klüger gewesen, den Mund zu halten; weiterhin einen Beschützer zu haben, ohne sich über dessen Hintergedanken ganz sicher zu sein, wäre immer noch besser gewesen, als sich jemanden zum Feind zu machen, der selbst jetzt noch viel zu kämpferisch wirkte, obwohl er doch nichts hätte tun sollen, als zu schlafen und sich zu erholen.

Doch nun war es zu spät, klug über alles zu schweigen, und so sagte Oshelm langsam: „Bedroht? Nein … Das heißt … Ja, doch, vielleicht, in gewisser Weise. Aber ich habe ihn niedergeschlagen.“ Es konnte doch sicher nicht schaden, das zu erwähnen?

„Du hast ihn niedergeschlagen?“ Wulf klang entzückt, aber sein Lachen ging in einen neuerlichen Hustenanfall über.

„Ja“, bekräftigte Oshelm und ertappte sich dabei, die Erinnerung unangemessen tröstlich zu finden. „Das habe ich getan, weil er erst angedeutet und dann ganz offen behauptet hat, dass du im Gegenzug für deine Hilfe gewisse … Gunstbeweise von mir erwarten würdest, und dass ich bereit wäre, sie dir auch zuzugestehen. Da habe ich ihn geschlagen, weil es mir wie eine üble Beleidigung vorkam, dass jemand annahm, ich könnte auch nur daran denken, mich so zu verkaufen, aber … Aber …“ Er wandte den Blick ab und fuhr leiser fort: „Aber zugegebenermaßen kann ich nur für meine Seite in diesem angeblichen Handel sprechen. Wenn es also so ist, wie Aslak behauptet … Wenn du wahrhaftig solch eine Bezahlung erwartest, dann …“ Ja, was dann? Er mochte Aslak überrumpelt haben, aber dieser eine glückliche Fausthieb bedeutete beim besten Willen nicht, dass es ihm auch gelingen würde, jemanden, der ein Leben lang Krieger gewesen war, davon abzuhalten, sich einfach zu nehmen, was er wollte. „Dann solltest du es mir wohl besser sagen“, schloss er matt und verabscheute sich dafür, nicht einmal eine eindrucksvolle Rede zustandegebracht zu haben.

Wulf streckte sich wieder in seinem Winkel aus. „Weißt du etwas, Krähe?“, begann er mit milder Erheiterung. „Wenn ich einmal weniger müde bin, musst du mir unbedingt erzählen, wie du herausgefunden hast, dass Aslak mein lieber Vertrauter und ein zuverlässiger Kenner meiner innigsten Wünsche ist.“

„Deiner innigsten Wünsche?“, wiederholte Oshelm und war sich unsicher, wie viel davon nur der schwache Scherz war, für den er es halten wollte.

Wulf hatte die Augen geschlossen. „Ja, und ich werde dir jetzt ein Geheimnis verraten.“

„Dazu besteht keinerlei Notwendigkeit …“, setzte Oshelm an und brach dann doch ab, weil er sich nur zu gut bewusst war, dass er Wulf eben noch selbst aufgefordert hatte,  sich frei über Gedanken und Gefühle zu äußern, die vorher nie angesprochen worden waren.

„Oh doch.“ Ein schmerzhafter Hustenanfall ließ Wulf wieder hochschießen; er schwieg eine ganze Weile, bis er wieder ruhiger atmen konnte. Als er dann den Kopf wandte, um Oshelm anzusehen, wirkte sein Gesicht im Dämmerlicht der Zelle bleich und gespenstisch, und es war nicht zu erkennen, ob das seltsame Funkeln, das in seinen Augen stand, auf bloßes Fieber zurückging oder auf ganz anderes hindeutete. „Es ist sieben Jahre her, dass Signe gestorben ist. Meine Frau.“ Seine aufgesprungenen Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, das nicht Oshelm galt, sondern einer, die es nicht mehr sehen konnte. „Seitdem habe ich mit niemandem mehr das Bett geteilt, nicht einmal für ein paar verstohlene Augenblicke, und ich habe nicht das geringste Bedürfnis, an dieser meiner Gewohnheit deinetwegen etwas zu ändern. Das hat vielerlei Gründe, aber auch wenn dem nicht so wäre, würde der eine ausreichen, dass du ein entsetzlicher Dummkopf bist.“ Er wandte den Kopf und hustete die Wand an.

Diese letzte Bemerkung konnte Oshelm nach allem, was er heute gesagt und getan hatte, schlecht empört von sich weisen. Stattdessen hob er nur seine Decke auf und legte sie Wulf um die Schultern.

„Es tut mir leid“, sagte er leise. „Ich war wirklich ein Dummkopf, zu glauben, dass Aslak da auf etwas gestoßen sein könnte – ein elender Dummkopf. Ich sollte dich besser kennen, als anzunehmen, dass du je auf so etwas verfallen könntest.“ Er lachte, halb reuevoll, halb erleichtert. „Signe hatte großes Glück, dich zu haben.“

„Nein“, sagte Wulf leise, den Blick noch immer auf die Wand gerichtet, die er vielleicht gar nicht sah. „Umgekehrt.“

Am folgenden Morgen konnte er nicht sprechen.