Wie letzte Woche ist der heutige Mittwochs-Lesestoff ein Ausschnitt aus Tricontium. Diesmal geht es um die mögliche Bewältigung schwieriger Zeiten durch Lektüre – oder zumindest ein diesbezügliches Gespräch, das Wulfilas Vater Wulf mit einem neuen Bekannten führt, als er sich nach einem blutigen Bürgerkrieg, in dem er auf der Verliererseite gestanden hat, als Gefangener in den Steinbrüchen von Mons Arbuini wiederfindet.
Trotz des eher tristen Themas viel Vergnügen beim Lesen (und eine aufrichtige Entschuldigung an Boethius, der hier etwas respektlos behandelt wird)!
Schwierige Zeiten
(Tricontium, S. 423-426)
Er hatte sich mit seiner Lage abgefunden, so gut es irgend ging, als sie ihm dann an einem Herbstabend Otachars Schreiber brachten. Der Mann war schon seit einer Woche in Mons Arbuini, doch bisher über Nacht anderswo eingeschlossen gewesen, wohl in Gesellschaft, die ihm nicht bekommen war.
Wulf war nicht überrascht, dass es Schwierigkeiten gegeben hatte. Der Schreiber, auf dessen Namen er sich nicht besinnen konnte, obwohl er ihn früher einige Male in Tricontium gesehen hatte, war in den Steinbrüchen schlechter aufgehoben als irgendjemand sonst. Der arme Kerl war ungeschickt mit jedem Werkzeug, das man ihm in die Hand gab, und sein früheres Leben in wohlgeordneten Schreibstuben und Kanzleien hatte ihn nicht darauf vorbereitet, sich hier zurechtzufinden und die Verbündeten zu gewinnen, die er benötigt hätte. Man merkte ihm seine Furcht an, und dass er offensichtlich kein Gespür dafür hatte, wann es besser war, nicht wie ein grammaticus zu reden, trug auch nicht gerade zu seiner Beliebtheit bei. Es war schon am ersten Tag absehbar gewesen, dass er herumgestoßen, benachteiligt und wann immer nötig zum Sündenbock gemacht werden würde; jemandem wie ihm konnte es hier gar nicht anders ergehen. Trotz allem hatte er die dunkelsten Seiten dieses Orts gewiss noch nicht kennengelernt. Er mochte schwach sein, aber er war zu harmlos, jemals ernsthaft mit den Wachen aneinanderzugeraten, und nicht jung und hübsch genug, um ohne sein Zutun Begehren zu wecken.
Dennoch weinte er, als könne er sich nichts Schlimmeres vorstellen als das, was ihm ohnehin schon zugestoßen war, und vielleicht hatte er ja Glück und verfügte tatsächlich nicht über die nötige Einbildungskraft, sich größere Schrecken auszumalen. In der ersten Nacht glaubte Wulf noch, der Zusammenbruch würde sich nicht wiederholen, und ließ seinen neuen Bekannten in Frieden.
In der zweiten Nacht, als sie immer noch kein vernünftiges Wort miteinander gewechselt hatten, ertrug er die Tränen abermals großzügig, auch wenn es unmöglich war zu schlafen, wenn sich jemand gleich neben ihm die Seele aus dem Leib weinte.
In der dritten Nacht war er mit seiner Geduld am Ende und hatte gerade noch genug Mitleid, den Schreiber nicht auf der Stelle zu erwürgen. »Habt Ihr Boethius gelesen, die Consolatio philosophiae?«, fragte er stattdessen.
»Nein.« Das war nicht viel, aber immerhin eine Antwort, und wer reden musste, konnte nicht ewig weiterweinen.
Wulf beschloss, das Gespräch am Leben zu halten. »Ich auch nicht. Aber es heißt doch, er sei unter solchen Umständen sehr nützlich, nicht wahr?«
»Das sagt man.« Zu seinem Erstaunen konnte der Schreiber lachen, zwar nicht sehr fröhlich, aber immerhin. »Aber Boethius ist seinen Kopf losgeworden. So nützlich können seine Ratschläge also nicht gewesen sein.«
»Dann müssen wir es bisher noch klüger angestellt haben als Boethius, nicht wahr?«, fragte Wulf und stieß bei dem Versuch, es sich bequemer zu machen, gegen die rauen Steine der Wand; er hatte sich noch nicht recht an die Enge gewöhnt, die das Vorhandensein seines Zellengenossen mit sich brachte.
»Vermutlich.« Es klang, als ob der Schreiber nun lächelte, und er schien seine Beherrschung langsam zurückzugewinnen. »Aber ich hätte nicht gedacht, dass Ihr wisst, wer Boethius ist. Die meisten Krieger wissen es sicher nicht, nicht einmal die, die lesen und schreiben können. Nicht, dass ich nun angenommen hätte, Ihr wärt kein gebildeter Mann, Herr Corvisianus, aber … Nun ja.« Das Lächeln war verschwunden und hatte nur Verlegenheit übrig gelassen.
»Wulf«, sagte Wulf, »nur Wulf. Ihr werdet mir beipflichten, dass ›Herr‹ in unserer gegenwärtigen Lage etwas unangemessen klingt, und ›Corvisianus‹ ist nur etwas, das Bernward sich ausgedacht hat, weil in meiner Jugend ein zweiter Wulf in seinen Diensten stand.«
Doch der Schreiber konnte auf seine Weise sehr hartnäckig sein. »Ich habe nicht angenommen, Ihr wärt kein gebildeter Mann, Herr Wulf … Wulf«, wiederholte er, als sei es sehr wichtig, zu unterstreichen, dass er keine Beleidigung beabsichtigt hatte.
Wulf hielt es für besser, gar nicht darauf einzugehen. »Ich kenne Euren Namen nicht, auch wenn ich weiß, dass Ihr Otachars Schreiber wart.«
Kurz herrschte ein unbehagliches Schweigen. »›Kra‹ wird genügen«, kam es dann schließlich aus der Dunkelheit.
»Kra? Krähe?« Wulf konnte sich, mochte er auch selbst nach einem Tier benannt sein, nicht recht vorstellen, dass »Krähe« tatsächlich ein richtiger Name war, und seine Zweifel wurden bestätigt, wenn die Stille auch womöglich noch länger dauerte als zuvor.
»Das ist so hängen geblieben«, erklärte der Schreiber nämlich. »Erst war es nicht schmeichelhaft gemeint, aber ich habe mich daran gewöhnt. Ich habe einen Namen, aber hier möchte ich ihn nicht häufiger als nötig hören. Nicht von diesen Leuten.«
»Wie Ihr möchtet.« Wulf versuchte zu verstehen, was in dem Schreiber wohl vorging, und konnte es nicht. Ihm selbst hatte es zu viel bedeutet, seinen wahren Namen wiederzugewinnen.
»Ihr werdet mich ›Krähe‹ nennen, ja?« Der Schreiber wirkte fast erstaunt, auf keinen Widerstand zu treffen.
Wulf lächelte. »Ich werde Euch so nennen, wie Ihr genannt werden wollt, meinetwegen auch ›Caesar Augustus‹, wenn es Euch so behagt, oder ›Schreiber, der mich jeden Abend wachhält‹.«
Diese Anspielung konnte selbst Krähe nicht überhören. »Es tut mir leid«, sagte er und klang ehrlich zerknirscht. »Ich wollte Euch gewiss nicht wachhalten, und … Es tut mir wirklich sehr leid.«
»Gute Nacht, Krähe.«
»Gute Nacht, Wulf. Und danke.«
Wulf träumte in dieser Nacht schlecht, doch als er am nächsten Tag erwachte, wünschte Krähe ihm mit dem ersten freundlichen Lächeln, das er seit seiner Ankunft in Mons Arbuini auf irgendeinem Gesicht gesehen hatte, einen guten Morgen. Das war genug, ihn beschließen zu lassen, dass er den Schreiber trotz allem mochte, und so warf er später Aslak dem Pferdedieb einen warnenden Blick zu, als der Mann sich an einem Stück Brot vergreifen wollte, das eigentlich Krähe zustand. Wie dankbar ihm der Schreiber dafür war, war ihm beinahe unangenehm.
Pingback: Lesestoff: Eine entfallene Szene (Tricontium) | Ardeija